Liebeszauber gegen deutsche Einsamkeit

Als die Mexikanerin Florencia Hurtado zum Regiestudium nach Berlin kam, kannte sie niemanden. In ihrem Abschlussfilm verarbeitet sie ein Stück ihrer eigenen Geschichte. Dabei treffen skurrile deutsche Gewohnheiten auf mexikanische Fremdbilder

von JAN STERNBERG

Als Florencia Hurtado vor zwei Jahren 30 wurde, hat sie viel über ihre Tante in Mexiko nachgedacht. Die hatte in diesem Alter zwei Söhne und ließ sich bald darauf scheiden. Seit 20 Jahren lebt sie allein. Florencia, die in der Stadt Guadalajara aufwuchs und an der Potsdamer Filmhochschule Regie studiert, dachte darüber nach, wie sich diese 20 Jahre wohl anfühlen mögen. „Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn es bei mir auch vorbei wäre mit der Liebe. Ich konnte physisch spüren, wie es ihr geht.“ Verbittert sei ihre Tante nicht, auch nicht einsam. Aber eben allein. „Ich habe mich gefragt, woran es liegt, dass manche wundervollen Menschen immer allein bleiben. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Aber genauso wenig gibt es eine Formel für die Liebe.“

Dann drehte sie ihren Abschlussfilm über die Geschichte ihrer Tante in Mexiko, wie sie sich in Berlin abspielen würde. Eine Geschichte, in der ein Querschnitt aller Menschen auftauchen sollte, die sie in ihren neun Berliner Jahren kennengelernt hat. Die Regisseurin Hurtado ist dabei auf Beobachtermission. Sie analysiert die Deutschen – auch um in diesem Land klarzukommen.

Sabine, ihre von Barbara Schnitzler gespielte Hauptfigur, hat sich eingerichtet, mit 50, in ihrer viel zu großen Wohnung in Prenzlauer Berg. Nie würde Sabine sagen, dass sie einsam ist. Nie würde sie eine Kontaktanzeige aufgeben. Sie hat eine anstrengende Arbeit, ihre Freizeit füllt sie wissbegierig: In einem Volkshochschulkurs lernt sie die Kunst der Haikus, jener streng formalisierten japanischen Gedichte. Dann aber zieht ein neuer Nachbar nebenan ein: Matthias, alleinstehend, Richter.

Sabines Sehnsucht nach dem Exotischen sei ein skurriler, ganz liebenswerter und sehr deutscher Charakterzug, analysiert Florencia. „Es ist eine Begabung der Deutschen, ihre viele Freizeit damit zu füllen, die unglaublichsten Sachen zu lernen. Das ist bewundernswert, wirkt aber schon oft sehr schräg. In Mexiko wäre gar keine Zeit dafür.“

Beim Frühstück, vor ihrer einzelnen Kaffeetasse, lernt Sabine zudem Türkisch im Kassettenlehrgang. Und um Matthias zu gewinnen, versucht sie sich an einem lateinamerikanischen Liebeszauber, den sie von Matthias’ kolumbianischer Putzfrau Lucia gelernt hat: Sie verbrennt ein Papier mit seinem Namen über einer Kerze, legt ein Haar von ihm unters Kopfkissen, feilt ihre Fingernägel bei Vollmond und streut ihm den Nagelstaub in ein Glas Rotwein. Der Zauber versagt, aber am Ende des Films ist sie dennoch glücklicher als zu Beginn.

Der Liebeszauber könnte von Lucia frei erfunden sein, meint Florencia Hurtado. Denn viele Deutsche gingen grenzenlos naiv und klischeebeladen mit dem fernen Ausland um. Wenn sie wieder einmal einer fragt, ob alle Mexikaner Sombreros tragen, immer Tequila trinken und VW Käfer fahren, sagt sie der Einfachheit halber: „Ja, natürlich“, und lächelt dazu. Dass ausnahmslos alle Latinas der Liebe mit geriebenen Fingernägeln in Rotwein auf die Spur helfen, passt da nahtlos ins Bild. „Diese Naivität bei vielen Deutschen finde ich sehr schön“, sagt Hurtado und lacht. Also gibt es gar keinen mexikanischen Liebeszauber? Natürlich, sagt sie ganz ernsthaft. „Nicht nur in Mexiko, auch in Kolumbien und auf Kuba. Meist ist es irgendetwas mit Kerzen. Viele machen das. Und wenn es nur darum geht, Zeit für sich zu haben und an den geliebten Menschen zu denken.“

Berlin, von Mexiko aus gesehen, ist sehr exotisch – und sehr unbeliebt. „Die Leute denken, dass es hier sehr kalt sei, dass auch die Menschen kalt seien. Das sind sie aber nicht, nur schüchtern.“ In einem früheren Kurzfilm, „Leb wohl“, liest Florencia Hurtado fiktive Briefe an ihre verstorbene Mutter. „Berlin ist eine angenehme Stadt, ruhig und sicher. Und sauber“, sagt sie da. Viele Deutsche hätten da laut gelacht. Aber gegen Städte wie Mexiko-Stadt sei es hier doch wie auf einem Spielplatz, meint sie.

Vieles von ihren deutschen Erfahrungen steckt auch in der dritten Figur des Films, Lucia. Auch Florencia hat in den ersten Berliner Jahren geputzt („bei einem sehr schrägen Typen, nur ein Wochenende“), gekellnert in mexikanischen Restaurants, wo sie das einzig echt Mexikanische war, und viel als Kindermädchen gejobbt. Meist bei spanischen Frauen, da brauchte sie keine Deutschkenntnisse. „Ich habe immer gehofft, dass kein Unglück passiert und ich nicht jemanden auf Deutsch anrufen muss.“ Kinder betreut hat sie auch bei einer Filmproduktion, einem Dreh in Mecklenburg. Eine frustrierende Erfahrung an den äußersten Rändern des Filmgeschäfts: „Ich war nah dran und doch so weit weg von dem, was ich machen wollte.“

Nach Jahren harten Sprachenlernens klappte es dann mit der Aufnahme an der Potsdamer Filmhochschule. In Mexiko-Stadt hat Florencia Hurtado schon einmal begonnen, Regie zu studieren. Sie brach ab, um ihrem damaligen Freund Miguel, einem Peruaner, nach Berlin zu folgen. Im kommenden Jahr wird sie das Studium in Potsdam abschließen. Ihre Geschichte von Sabine, Matthias und Lucia heißt „Haiku“. Und ein Haiku – verfasst von der Drehbuchautorin Lena Kammermeier – ist es auch, in dem sich die aufflammende Leidenschaft der Hauptfigur Sabine zeigt: „Ein warmer Sommermorgen / Zwei Kaffeetassen abspülen / Nicht eine.“

„Haiku“ von Florencia Hurtado läuft im RBB in der Nacht vom 14. zum 15. 12. um 0.45 Uhr. Wie bei Studentenfilmen leider üblich eine skandalöse Sendezeit; ein Fall für den Videorekorder