IM „FALL STEPHANIE“ SIND MEDIEN AUS IHRER ROLLE GEFALLEN
: Missbrauch der Pressefreiheit

Die Regeln des Strafprozesses in Deutschland sind kompliziert – und ein eindrucksvoller Beweis dafür, wozu eine zivilisierte Gesellschaft fähig ist. Nämlich unter anderem dazu: nicht das Opfer, sondern eine neutrale Instanz über die angemessene Sanktion für eine Straftat urteilen zu lassen. Nicht die Gefühle der Geschädigten zum Kriterium für eine Strafe zu machen. Weshalb Verkehrssünder eben nicht nach dem Maßstab verurteilt werden, wie viel Leid sie über andere Menschen gebracht haben. Sondern danach, wie viel individuelle Schuld sie auf sich geladen haben.

Nicht nur die Strafjustiz, auch die Medien nehmen eine privilegierte Rolle ein. Es ist ihre Aufgabe, die staatlichen Gewalten zu kontrollieren, und sie genießen dafür Vorrechte, die sogar vom Grundgesetz geschützt werden. Was nicht ihre Aufgabe ist: die Arbeit von Verfassungsorganen zu behindern und den Volkszorn zu schüren.

Es gibt keinen Anlass, inhaltlich Kritik daran zu üben, dass der Vergewaltiger eines 13-jährigen Mädchens zur Höchststrafe und anschließender, möglicherweise lebenslanger Sicherungsverwahrung verurteilt worden ist. Die Richter werden gewusst haben, was sie taten. (Falls sie es nicht gewusst haben, wird die nächste Instanz sie korrigieren.) Sie haben Sachverständige gehört, Zeugen vernommen, Polizeiakten gelesen. Und: Sie sind Juristen. Die meisten Journalisten sind das nicht.

Auch die Beobachtung der Justiz gehört zu den Aufgaben der Medien. Es gilt, Willkür und Vetternwirtschaft zu wehren. Wenn aber in den Nachrichtenmagazinen privater Fernsehsender die Reporter vor Ort um Prognosen so gebeten werden, als seien sie das Orakel von Delphi, wenn kindliche Opfer in Talkshows vorgeführt werden, wenn über spektakuläre Verhaltensweisen des Täters lustvoll live berichtet wird: dann ist all das ein Missbrauch der Pressefreiheit. Der weder dem Opfer dient noch der Gesellschaft. Sondern nur der Quote.

Das ist ekelhaft, das ist obszön. Das schreit nach einer neuen Definition von Standesregeln. Und nach einer Antwort auf die Frage, wie sich solche Regeln durchsetzen lassen. BETTINA GAUS