Justin füllt die Kinderheime

Sie wurden verbrüht und ausgehungert – und ihr Leiden wurde öffentlich. Seit den verstörenden Kindestötungen werden in NRW mehr Kinder aus den Familien genommen. Trend oder Taktik?

VON MIRIAM BUNJES

Mia war acht als die Nachbarn ihre Schreie endlich hörten. Da hatte ihr Vater sie gerade zusammengeschlagen und vergewaltigt – „natürlich nicht zum ersten Mal“, schreibt sie im Internetforum ihres alten Kölner Kinderheims, wo sie zusammen mit anderen ehemaligen Heimkinder versucht, ihre Biografie aufzuarbeiten. „Vorher hat es nur niemand gehört.“ Geschichten wie ihre hört Gerd Krugmann täglich. Missbrauch, Misshandlung, gefährliche Gleichgültigkeit, von der über Jahre kein Nachbar, kein Lehrer oder Sozialarbeiter etwas mitbekommen hat, sind sein Beruf. Der Erziehungsleiter des Bochumer Vinzenzkinderheims bekommt zur Zeit sogar noch mehr Kinder zu Gesicht als sonst. Nicht, dass die Zeiten brutaler geworden sind – das seien sie immer, sagt er. „Seit Kevin und Justin sind die Jugendämter vorsichtiger geworden“, sagt Krugmann. „Das merken wir ganz deutlich an unseren Unterbringungszahlen, seit Herbst steigen sie überdurchschnittlich.“

Im Herbst schlug ein drogensüchtiger Vater in Bremen seinen zweijährigen Sohn Kevin tot, dem Jugendamt waren vorherige Misshandlungen bekannt. Staatliches Versagen, mit dem auch die Stadt Bochum kurz darauf in die Schlagzeilen kam. Ein sechs Monate altes Baby, Justin, wurde von seinem Stiefvater mit brühend heißem Wasser getötet. Auch hier wurde das Jugendamt über Misshandlungen informiert.

Jetzt werden die Kinder eher früh aus der Familie in die Obhut des Jugendamts genommen. „Das wird sich wieder normalisieren, wenn die spektakulären Fälle aus den Medien verschwinden“, sagt Krugmann. „Das kann sich keine Kommune leisten, vor allem keine verschuldete aus dem Ruhrgebiet“. 114 Euro täglich kostet ein Platz im Bochumer Heim, das ist mit rund 3.500 Euro im Monat noch vergleichsweise günstig.

Trotzdem beobachtet das Landesjugendamt, das die kommunalen Jugendämter bei ambulanter und stationärer Jugendhilfe berät, auch in anderen NRW-Kommunen einen Trend zur Vorsicht. „Sie achten nach den Vorfällen verstärkt darauf, nicht solche Fehler zu machen“, sagt Markus Fischer, Sprecher des Landesjugendamts NRW.

„Dafür brauchte es traurigerweise ein paar krasse Fälle von Kindstötung“, sagt Friedhelm Gülthoff, Geschäftsführer des Kinderschutzbundes Nordrhein-Westfalen. Er fürchtet jedoch weiterhin die personelle Situation der Jugendämter. „Alle arbeiten an der Grenze, einige sogar darunter“, sagt der Kinderschützer. „Auch wenn Ministerpräsident Jürgen Rüttgers NRW immer als kinderfreundliches Land bewirbt: Es wurde viel Geld für Kinder und Jugendliche gestrichen. Das zeigt, wo die politischen Prioritäten liegen.“

Zu Unrecht wurden die zusätzlichen Kinder in Bochum nicht aufgenommen, sagt Heimerzieher Krugmann. „Die Entscheidungen liegen aber nicht immer eindeutig auf der Hand.“ Er wünscht sich deshalb mehr Prävention. „Kinder unter drei sind für den Staat fast unsichtbar“, sagt er. „Da muss noch viel mehr Vernetzung zwischen Ärzten, Ämtern und Kindertageseinrichtungen stattfinden.“

Auch der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Jens Pothmann warnt davor, Heimaufenthalte als Allheilmittel zu sehen. Bundesweit gehen die Zahlen seit den 90er zurück, in NRW steigen sie seit dem Jahr 2000 wieder an. 7.900 Kinder und Jugendliche wurden im vergangenen Jahr vom Jugendamt in Obhut genommen – das bedeutet, dass sie solange aus ihrer Familie genommen wurden, bis ein Gericht über ihren weiteren Aufenthalt entscheidet. 2004 waren es mehr als 300 weniger, so die Zahlen des Landesamtes für Statistik. „Ein Heimaufenthalt ist ein schwerer Einschnitt in die Biografie eines Kindes“, sagt Pothmann. „Einfach so mal vorbeugend sollte das auf keinen Fall gemacht werden.“