Sexuelle Belästigung: 80 Prozent der Männer sahen zu

BEISPIEL 1 In Indien und auf dem Balkan beweist ein Forschungszentrum, dass Prävention möglich ist. Mit Konzepten aus den brasilianischen Favelas kommt der Respekt vor sich selbst und den Frauen

■ Der Fotograf Armin Smailovic begann 2010, bosnische Frauen zu porträtieren, die während des Krieges in Jugoslawien Opfer organisierter Vergewaltigungen geworden waren und sich als Kriegsopfer registrieren ließen. Die Frauen wollten, dass die Öffentlichkeit von ihrem Schicksal erfährt. Ihre Privatsphäre wollten sie aber auch gewahrt wissen; deshalb erklärten sich nur wenige bereit, ihren Namen zu nennen.

AUS LONDON DANIEL ZYLBERSZTAJN

Im Dezember 2012 vergewaltigten mehrere Männer eine 23-jährige Studentin in Delhi in einem Bus. Dies machte international Schlagzeilen, überraschte aber die Frauen beim US-basierten Forschungszentrum ICRW (International Center for Research on Women) leider nicht. Erst drei Monate zuvor hatten sie in Delhi die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung zum Thema Vergewaltigung vorgestellt. Nur 5 Prozent der befragten Frauen gaben an, dass Delhi für sie ein sicherer Ort sei. 90 Prozent gaben an, sexuell belästigt geworden zu sein. 80 Prozent der Männer gaben an, schon einmal Zeuge solcher Belästigung gewesen zu sein. Und die Hälfte von ihnen gab zu, dass sie selber Frauen sexuell belästigen.

Sexuelle Gewalt ist ein Problem nicht nur in Kriegssituationen, betont ICRW-Präsidentin Sarah Degnan Kambou. In seiner 40-jährigen Geschichte hat das Forschungszentrum unter anderem in Indien, Kenia und Exjugoslawien gearbeitet. Die indische Megalopole Mumbai sei zwar keine direkte Konfliktzone, sagt Degnan Kambou, sei aber voll immenser Spannungen. Die verheerenden Auseinandersetzungen in der Zeit der Entkolonisierung Indiens vor 70 Jahren, als ein eigener muslimischer Staat namens Pakistan entstand und mindestens eine Million Menschen starben, präge die Gesellschaft bis heute.

Vor vier Jahren begann das ICRW, in Mumbai mit Jugendlichen im Alter von 10 bis 12 Jahren zu arbeiten – in einer Art kontrolliertem wissenschaftlichem Experiment. „Es ging darum, wie in der Schule Geschlechtsunterschiede vermittelt werden“, erzählt Degnan Kambou. „Wir hatten eine Schule zur Forschungskontrolle, die auf die herkömmliche Art unterrichtete, eine Schule mit einen modifizierten Lehrplan und eine Schule mit einem modifizierten Lehrplan und Aktivitäten außerhalb der Schule.“ Als das ICRW nachweisen konnte, dass sein Ansatz das Denken der Kinder über Gender eindeutig in Richtung Gleichberechtigung bewegt, übernahm zuerst die Stadtregierung den Plan an 250 Schulen und dann die Region an 25.000 weiteren staatlichen Schulen. Das Interesse wachse weiter, bis nach Bangladesch.

Auf dem Balkan, im bosnischen Srebrenica und in Kosovos Hauptstadt Pristina, arbeitete das ICRW, anders als in Indien, nur mit jungen Männern im Alter von 14 bis 21 Jahren, groß geworden in den Jugoslawienkriegen. Auf der Grundlage von Konzepten, die in brasilianischen Favelas erarbeitet worden waren, wurden die Jugendlichen in Schulstunden, Klubaktivitäten, auf Partys und in sozialen Medien zwei Jahre lang mit vielen Fragen konfrontiert: nach ihrem Verhältnis zum anderen Geschlecht und zu sich selbst, nach generellem Aggressionsverhalten und eigener Gewalterfahrung. „Ich erinnere mich, wie wir in einer Schule in Srebrenica die Jungs fragten, wo man nicht sicher sei“, sagt Degnan Kambou. „Sie markierten alle den schmalen Weg zur Schule immer wieder rot. Es war hier, wo sie tagtäglich und nahezu unvermeidlich jeden Morgen der Belästigung durch andere ausgesetzt waren.“

Die Fähigkeit der jungen Männer, sich selbst und Frauen zu respektieren, und ihre Verhandlungsfähigkeit seien durch diese Arbeit gewachsen. Und das hätten die Jugendlichen auch geschätzt, sagt sie.

„Aufgrund kultureller Traditionen konnten wir jedoch nicht die Meinungen zum Alkoholkonsum ändern.“ Und „was passiert, wenn die jungen Männer die ersten Niederlagen des Lebens erleben, etwa die Unfähigkeit, Arbeit zu finden, wissen wir noch nicht“.

Die forschungsorientierte und immer wieder selbstkritische Arbeitsweise des ICRW hat dafür gesorgt, dass die Programme des Zentrums heute zu den von UN-Organisationen wie UN Women und Unicef weltweit meistempfohlenen Präventionsprogrammen gehören. „Im Kosovo haben sie unser Programm ganzheitlich angenommen und in den eigenen Schulplan integriert“, freut sich die Direktorin. „Doch in anderen Ländern waren Politiker weniger bereit, die Kultur der Männlichkeit zu hinterfragen – mit der Begründung, der Krieg sei vorbei und man wolle alten Traditionen nichts entgegenstellen.“

Auf dem Londoner Gipfel sollen die Erfahrungen aus dem Balkan auch anderen vermittelt werden. „Denken Sie nicht, es könnte nicht in ihrer Nachbarschaft passieren und es sei nur das Problem von Menschen in fernab gelegenen Regionen, vielleicht weil Sie meinen, Ihre Gesellschaft hätte höhere oder zivilisiertere Normen“, warnte Kroatiens Vizepremier- und Außenministerin Vesna Pusic bei der Eröffnung einer Sitzung. „Wenn es in Ihrer Stadt oder Nachbarschaft heute Vergewaltigungen gibt, ist es ein Indiz dafür, dass es in Krisenzeiten in jeder Region so werden kann wie bei uns.“