Das Verbot der Oper

Im „Waiting Room“ der verzweifelten Frauen: Die Akademie für Alte Musik führt im Radialsystem mit zerstückelten Kantaten von Händel in Paralleluniversen des Barock

Ist das schon Verzweiflung oder geht es noch als falscher Ehrgeiz durch? Die Akademie für Alte Musik Berlin führt an ihrem neuen Haus, dem Radialsystem, drei frühe Kantaten von Händel auf. Die ursprünglich konzertante Musik wird szenisch aufgearbeitet, die Stücke den Arien und Rezitativen nach auseinandersägt und unter dem Titel „Waiting Room“ zu einer neuen Erzählung melangiert. Eine Tänzerin kommt hinzu, die die Protagonistinnen begleitet und interpretiert. An die Macht des barocken Tons und die rhetorische Kraft der Partituren, so viel ist klar, scheint hier niemand mehr zu glauben.

Nun hat Händel die Kantaten, von denen die Rede ist, im Rom des frühen 18. Jahrhunderts zu einer Zeit geschrieben, als ein päpstlicher Erlass der italienischen Stadt die Oper verbot. Die Kantate wurde in diesen Jahren deshalb zu einem Stellvertreter der Oper; Komponisten verliehen der bis dahin eher frommen Gattung einen dramatischen Zug. Auch Händel legte seinen römischen Kantaten für drei tragische Frauengestalten – Lucretia, Armida und Clorinda – eine imaginierte Szene zugrunde. Ganz so abwegig ist es also nicht, diesen Werken mit den Mitteln des Regietheaters beizukommen und sie auf einen möglichen Gegenwartsbezug hin abzuklopfen.

Genau das hat Regisseur Derek Gimpel jetzt gemeinsam mit der Akademie für Alte Musik Berlin versucht. Im Mittelpunkt seines Stücks „Waiting Room“ stehen drei Frauen, die – vergewaltigt, verlassen und verwitwet – mit dem Schicksal hadern. Dass Gimpel mit der Ästhetisierung weiblicher Opfer kein besonders glückliches Sujet gefunden hat, ist eine Sache. Dass es ihm nicht gelingt, das Psychologisch-Dramatische daran zum Sprechen zu bringen, eine andere. Denn jede Vermittelung, die die Zerstückelung der drei Kantaten rechtfertigen würde durch die Geschichte der drei Frauen, bleibt aus. Regie und Personenführung geraten zur dilettantischen Farce, in der die Solisten sich mit eurythmischen Bedeutungslosigkeiten und grotesk überzeichneten Gebärden plagen. Auch die sich wahlweise in asketischer Zurückhaltung und verzweifelter Raserei ergehende Tänzerin kann die dramaturgische Leerstelle nicht füllen.

Ganz anders die Musik: Eine eleganter phrasierende, weicher federnde Bassgruppe hat man selten gehört, auch wenn die hohen Streicher und die Oboe hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Die drei Sängerinnen ergänzen sich, mit einem kühlen schnörkellosen Sopran (Deborah York) einem kehlig-dunklen (Ruth Sandhoff) und einem dramatisch-kraftvollen Mezzospran (Renata Pokupic), zu einem Tableau des barocken Gefühlslebens.

Zum Schlüssel und zur schönsten Überraschung des Abends aber werden die kurzen Remixe des Turntablisten Ignaz Schick, der die Szenen mit seinen Einwürfen gliederte. Hier wird Händel mit ganz unterschiedlichen Klangvorstellungen zur Deckung gebracht, mit der Plakativität gellender Rockismen, mit dem rhythmischen Stampfen der klassischen Moderne, mit der meditativen Ruhe eines indischen Ragas. Ohne Händel Gewalt anzutun, hat Schick die unterschiedlichen Klanggesten des Barock in Paralleluniversen überführt und ihnen so zu sinnfälliger Aktualität verholfen.

BJÖRN GOTTSTEIN

Heute und morgen, 20 Uhr, Radialsystem V, Holzmarktstr. 33, 10243 Berlin