„Für junge Leute ist die EU Alltag“

Nationale Bindungen verlieren in Europa an Kraft, sagt Sylvia Kritzinger, Autorin einer Studie über europäische Identität

taz: Frau Kritzinger, in Ihrer Untersuchung stellen Sie fest, dass es im Jahr 2030 nur noch 100 Millionen EU-Bürger mit nationaler Identität geben wird. Werden wir alle zu Europäern?

Sylvia Kritzinger: Nein. Wir sprechen in unserer Studie von multiplen Identitäten, das heißt, dass die Bürger neben ihrer lokalen, regionalen und nationalen Identität auch noch eine europäische Identität haben werden. Und die Zahl der Bürger mit solchen multiplen Identitäten, die wächst tatsächlich stark.

Das heißt, die nationale Identität bleibt erhalten?

Ja, sie wird nur erweitert durch die europäische Komponente.

Wie sind Sie zu diesen Ergebnissen gekommen?

Wir haben die Eurobarometer-Datenreihen von 1995 bis 2004 für die 15 alten Mitgliedsstaaten verwendet. In diesen Jahren ist eine Frage zu Identität abgefragt worden, die wir dann für unsere statistischen Berechnungen verwendet haben.

Sie stellen fest, dass die nationale Identität das „Sprungbrett“ für die europäische Identität ist. Was heißt das?

Bestimmte wissenschaftliche Literatur geht davon aus, dass man nur eine Identität haben kann. Das heißt, man sieht sich entweder als Österreicher oder als Europäer. Unsere Ergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass man durchaus mehrere Identitäten nebeneinander haben kann.

Und das gilt laut ihrer Studie vor allem für junge Leute?

Ja. Bei den 15- bis 19-Jährigen haben bereits jetzt 65 Prozent eine multiple Identität. 2030 werden es über 80 Prozent sein. Für diese jungen Leute ist die EU Alltag, eine Selbstverständlichkeit. Unter den 75- bis 79-Jährigen weisen dagegen nur rund 45 Prozent eine multiple Identität auf.

Aber könnte es nicht auch sein, dass das europäische Bewusstsein abnimmt, je älter man wird?

Wir haben untersucht, ob für die Identität das Alter ausschlaggebend ist, also: Je älter man wird, umso nationaler denkt man. Unsere Daten zeigen jedoch, dass es sich um einen sogenannten Kohorteneffekt handelt. Wenn ich mit 30 eine europäische Identität habe, dann habe ich sie auch noch mit 40 oder 50. Sie verschwindet nicht. Berücksichtigt man zudem die demografische Entwicklung, so kann man feststellen, dass das Entstehen der europäischen Identität eine Frage des Generationswechsels ist.

Was trägt dazu bei, dass europäische Identität entsteht?

Sehr unterschiedliche Faktoren. In einem anderen Land zu studieren, dort zu arbeiten, das ist sehr wichtig …

Das heißt, wir müssen nur möglichst oft die Grenzen unseres Landes überschreiten, und schon werden wir zu Europäern?

Nein, so einfach ist es natürlich nicht. Mehrere Faktoren sind dafür notwendig. Hinzu kommen muss unter anderem auch eine ökonomische Komponente. Der Bürger muss erkennen, dass er von der europäischen Integration auch wirtschaftlich profitiert, dann kann er sich mehr mit der EU identifizieren.

In welchem Mitgliedsland leben die überzeugtesten Europäer?

In Luxemburg, was sicher auch auf die geografische Lage als kleines Land in der Mitte Europas zurückzuführen ist. Grundsätzlich aber gilt, dass in den sechs Gründungsstaaten der EU der Anteil der Bürger mit multipler Identität höher ist als in den Staaten, die später beigetreten sind. Deutschland liegt unter den 15 Alt-EU-Staaten an 8. Stelle mit 56 Prozent multipler Identität. Schlusslicht ist Großbritannien mit 40 Prozent. Wenn die Briten auf den Kontinent fahren, dann sagen sie immer noch: Wir fahren nach Europa.

INTERVIEW: SABINE HERRE