: Vernunftschatten
Die Spacefolkband Glacier um den vierten „Toco“ Rick McPhail stellt ihr ordentliches Debüt heute im Lido vor
Die Zeit der Band-T-Shirts ist ja schon lange vorbei. Vorbei die Zeiten, als man noch mit dem Aufdruck „Teenage Fanclub“ für Furore sorgen konnte. Mittlerweile taugen die alten Hemden nicht mal mehr zum Schlafen. Mein letztes Band-T-Shirt habe ich jedenfalls in diesem Frühjahr ausgemustert – es hatte handballgroße Löcher im Achselbereich. Es war mir vor knapp zehn Jahren geschenkt worden von Rick, also von Rick McPhail, dem freundlichen T-Shirt-Verkäufer der Band Tocotronic, damals in der Kölner Live Music Hall.
Rick war damals bei „den Tocos“ der Mann fürs Merchandising. Ein Freund der Band, einer, der wusste, worum es im Song „Meine Freundin und ihr Freund“ wirklich ging. Nebenher spielte er in der Glam-Punk-Band Venus Vegas, die einige eher schlecht gehende Platten gemacht hat. Nach einiger Zeit stieg Rick McPhail, gebürtiger Amerikaner, im Tocotronic-Universum zum Live-Zusatzgitarristen und Keyboarder auf. Irgendwann kam das Ende von Venus Vegas und der Einstieg als vollwertiges Bandmitglied bei Tocotronic. Auf deren letzter Platte „Pure Vernunft darf niemals siegen“ sorgte er für die Schrägheiten, für die sägenden Gitarrensounds, für den höher gewordenen Rockanteil.
Sehr, sehr lange vorbei sind auch die Zeiten, wo Nebenprojekte einzelner Mitglieder Vorboten des Untergangs der Hauptband waren. Tocotronic haben u. a. die Tochterfirmen Phantom/Ghost und Das Bierbeben geboren – und dennoch wird das nächste Album unvermittelt angesteuert (kommt früh im nächsten Jahr). Auch Rick McPhail hat schon wieder ein eigenes Bandprojekt: Glacier, das zuerst mit seinem Tocotronic-fähigen Cover auffällt, dann aber ansonsten unglaublich selbständig unterwegs ist. Tatsächlich hört man auf dem Debüt „A Sunny Place for Shady People“ nicht einen Ton, der entfernt an das Mutterschiff erinnern könnte, und, was vielleicht die viel größere Leistung ist, die Band muss sich nicht einmal Mühe geben, um völlig eigen zu klingen.
Das Erstaunliche ist dabei McPhails Stimme. Sie klingt so unangestrengt glatt, und das ist nicht als Kritik gemeint. Der Mann kann nämlich singen. Musikalisch stimmt sowieso fast alles, es gibt Indierock der wavigeren Sorte mit ab und an verschreckend extraterritorialen Keyboardsounds. Und natürlich akzentfrei gesungenen englischen Texten. Wobei McPhails Stimme und das bisweilen gemächliche, aber nie träge Tempo der Stücke an irgendetwas aus den 80er-Jahren denken lässt. Vielleicht an eine Band zwischen Crowded House, Red Lorry Yellow Lorry und den Chameleons – an eine Band, die es so eben nicht gegeben hat. Manche sagen auch „Spacefolkband“ dazu. Die Platte ist übrigens bei Staatsakt erschienen, einem kleinen, noch gar nicht alten Label aus Berlin, genauer aus der Sonnenburger Straße, aus der unmittelbaren Nähe von kookbooks und Kohlenquelle. Heute Abend im Lido wird es vielleicht auch T-Shirts geben – wer weiß, vielleicht kommen sie ja wieder in Mode.
RENÉ HAMANN
21 Uhr, Lido, Cuvrystr. 7 (Aftershowparty mit DJ Jan Müller); Glacier: „A Sunny Place For Shady People“ (Staatsakt)
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