schurians runde welten
: Brehmes beidfüßiger Diskurs

„Wir haben vergessen, auch nach hinten zu denken.“(Felix Magath)

Popdiskurse sind wie Elfmeterschießen. Sie werden im Kopf entschieden. Natürlich kann kein Mensch Roland Pofalla gut finden. Aber wenn man ihn umdeutet – ich sah ihn neulich aus einem Fraktionsraum stürmen – wenn man Pofallas Codes versteht, seine angewinkelten Arme, das hochgekrempelte Sakko, der kurze breite Schlips, dann findet man den Elton John vom Niederrhein gar nicht mehr so übel, sondern nimmt ihn wahr als passenden Ausdruck seiner Zeit. Wenn man auch noch begreift, wie Pofalla es geschafft hat, sich in Peter Hintze zu verwandeln und den an die Memphis-Architektur des Kanzleramts anzupassen, an die Globalisierung, die Pastellwelten, muss man seine Kappe ziehen vor dem nöligen CDU-Generalsekretär. Kurz darauf darf man Pofalla auch wieder fallen lassen wie ein abstruses Brillengestell, um ihn in sieben Jahren wiederum neu zu erklären – nun als Opfer einer politischen Farce.

Oder nehmen wir Andreas Brehme; – der wird ja gemeinerweise nie als Nachfolger von irgendwem gehandelt. Vor kurzem sah ich seinen Elfmeter von Rom wieder im WM-Endspiel gegen Argentinien. Ob es an der Sendung lag, jedenfalls schien sich die Zeit, bis der Beidfuß den Ball links unten ins Tor schob, ins Unendliche auszudehnen. Brehmes Wangenknochen traten dabei aus den fahlen Zügen, als seien es Hockeyschläger. Sein Kauen steigerte sich zu einem Malmen. Brehmes Augen hatten sich tief in ihre Höhlen verzogen. Kurz gesagt: 1990 war Brehme Rocky, einer von unten, der es allen zeigen durfte. Ein Elfertreter, der keine Gedanken zu verscheuchen hatte. Oder ließ er sich nur so viel Zeit, weil er überlegte? Winkelzug um Winkelzug: „Ich schieß ihn rechts unten reine, weil er bestimmt denkt, ich schieß ihn in die Mitte, weil er denkt, ich denke, er denkt, ich denke, er denkt, ich schieß ihn links oben.“ Brehme heute ist eine noch größere ästhetische Herausforderung für den Diskurspiloten als Pofalla – auch grammatisch. Ich bedaure es sehr, dass er nicht mehr co-kommentiert.

Letzte Episode: Eine Freundin fuhr neulich mit hundert Nazis Eisenbahn und wunderte sich, warum sie Klingeltöne von Tokio Hotel austauschten und Che-T-Shirts trugen. Nicht feige fragte sie die Randgruppe, was sie ausgerechnet mit dem Kommunisten wollen. Offenbar hat auch die doitsche Jugend Diskurspflege betrieben – Castros Argentinier habe doch den US-Imperialismus bekämpft, die „jüdische Weltverschwörung“. Zur Sicherheit ritzten sie der internationalen Linksikone aber ein paar Runen in seine Baskenmütze. Und eine Frage blieb dennoch offen: Wie diskutiert man sich Tokio Hotel schön?CHRISTOPH SCHURIAN