Der Abgang der alten Dame

FUSSBALL Weltmeistertitel, olympisches Gold, Weltrekorde: Kristine Lilly hat alles erreicht, was es als Fußballerin zu erreichen gibt. Nun hat sie aufgehört – und verzichtet auf ihre sechste WM-Teilnahme

Wenn die US-amerikanischen Spielerinnen im Sommer zur Weltmeisterschaft nach Deutschland reisen, dann wird eine Ikone des Frauenfußballs nicht mehr dabei sein: Kristine Lilly ist zurückgetreten, hat ihre zweite Familie, wie sie die Nationalmannschaft stets nannte, verlassen, um sich mehr um ihre erste, ihren Mann und ihre Tochter, zu kümmern.

„Ich hatte einfach das Gefühl, dass es an der Zeit war aufzuhören“, erklärte sie ihren dann doch etwas überraschenden Rücktritt. „Ich hätte mich wahrscheinlich durchkämpfen können, denn körperlich fühle ich mich noch fit, aber mir fällt einfach alles etwas schwerer.“ Die 39-Jährige feierte 1987 ihr Debüt in der Nationalmannschaft. Damals war fast die Hälfte der heutigen US-Spielerinnen noch nicht einmal geboren. Lilly tritt ab, wie sie als Sportlerin stets aufgetreten war: trotz großer Erfolge bescheiden. Ihr Trainer Tony DiCicco nannte sie einmal die meist unterschätzte Fußballerin der Welt.

Das ist wohl wahr. Sie ist die einzige Spielerin, die bei allen fünf bisherigen Frauenfußball-Weltmeisterschaften dabei war. Sie spielte bei drei Olympischen Spielen, nur in Peking fehlte sie schwanger. Sie absolvierte 352 Länderspiele, Weltrekord für Männer und Frauen, und erzielte dabei 130 Tore. Sie war die jüngste Spielerin, die jemals für die USA traf, und sie ist auch die älteste: Das letzte Tor schoss sie im Mai 2010 gegen Deutschland.

Trotz dieser unglaublichen Laufbahn blieb sie immer die Stille einer goldenen Generation: Zusammen mit Mia Hamm, Brandi Chastain, Joy Fawcett, Julie Foudy und Michelle Akers gewann sie 1991 und 1999 die WM und 1996 olympisches Gold. Doch anders als ihre Kollegin Hamm, lange das prominenteste Gesicht des internationalen Frauenfußballs, wurde sie nicht zur Werbeträgerin aufgebaut. Ihre Qualitäten waren andere, fundamentalere. „Kristine legt Wert auf das Alltägliche“, sagte Hamm einmal über ihre dauerlaufende Mitspielerin, „zu viele machen das nicht, weil sie denken, das sei nicht wichtig.“

Lilly war nie so glamourös wie Hamm, aber ihr Beitrag zur Entwicklung des Frauenfußball mag noch wichtiger sein. Zusammen schafften die US-Girls, was kein Marketingexperte zuvor erreichen konnte: Sie begeisterten ein Massenpublikum in den USA für den Fußball. Das WM-Finale 1999 zog Millionen vor die Fernsehschirme und 90.000 Zuschauer ins Stadion, die Lilly und ihre Mitspielerinnen zum Titel trieben. Danach entstand ein riesiger Hype um die neuen Nationalheldinnen, die in den USA zur Mannschaft des Jahres gewählt wurden. Dokumentation wurden gedreht, Werbeverträge abgeschlossen, Titelgeschichten geschrieben. „Als ich angefangen habe, wusste niemand etwas über das US-Team“, sagte Lilly unlängst, „jetzt haben wir eine Profiliga und College-Spiele werden im Fernsehen übertragen.“

Bis dahin aber war es ein weiter Weg. Und Lilly hat jede Etappe mitgemacht. Sie hat schon in der High School Titel gesammelt, dann mit ihrem Universitätsteam. Sie war bei allen, teilweise eher kurzlebigen Versuchen dabei, Frauenfußball als Profisport in den USA zu etablieren. Wenn es in ihrer Heimat gerade mal keine Frauenliga gab, hat sie in Schweden gespielt. Oder auch in Männermannschaften, in einer Hallen-Profiliga war sie die einzige Frau. „Sie war nicht da, um die Männer vorzuführen oder als Superstar“, sagte ihr frühere Trainer Jim Gabarra „wir brauchten sie wegen ihres Kampfgeists und weil sie eine gute Spielerin war.“ Immerhin bekam sie eine eigene Umkleidekabine. „Es war schon sehr einsam“, sagte Lilly über die Zeit.

Nur eine einzige Auszeit nahm sie sich in ihrer internationalen Karriere und verzichtete auf die Olympischen Spiele 2008, um ihre Tochter Sidney Marie Heavey zur Welt zu bringen. Nach der Babypause kehrte sie zurück auf die internationale Bühne und half der Nationalmannschaft, sich für die WM 2011 zu qualifizieren.

Nach Deutschland will die Stillste aus der goldenen Generation trotzdem nicht mehr. Sportlich wäre sie dazu in der Lage, fit genug ist sie jedenfalls immer noch. Bei einem Ausdauertest im letzten Herbst schlug sie alle anderen Nationalspielerinnen. „Ich kann eben rennen“, sagte sie, bescheiden wie immer. Deutschland 2011, das wird eine sehr spezielle WM. Die erste ohne Kristine Lilly. RASMUS CLOES