Eine Nacht obdachlos mitten in Paris

Aus Solidarität mit Wohnungslosen ruft eine französische Bürgerinitiative die Hauptstädter dazu auf, eine Nacht in Zelten zu verbringen. Plötzlich entdecken auch die beiden aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten das Thema für sich

Binnen zwei Jahren muss niemand in Frankreich mehr auf der Straße sein

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„sdf“ – das Kürzel sollte man sich merken. Es beschreibt einen ständig größer werdenden Teil der französischen Bevölkerung. „sdf“ bedeutet: „ofW“ – ohne festen Wohnsitz. Schon vor fünf Jahren gab es davon 90.000 in Frankreich. Seither hat sich niemand mehr getraut, sie zu zählen. In der Regel leben „sdf“ versteckt. Ihrer eigenen Sicherheit zuliebe. Aus Scham. Und auch, um Menschen, die noch ein Dach über dem Kopf haben, keine Angst zu machen. Doch seit dem vergangenen Wochenende stehen sie im Rampenlicht. Eine Bürgerinitiative namens „Kinder von Don Quichotte“ (www.lesen fantsdedonquichotte.com) hat aus Solidarität mit den „sdf“ mehr als 100 Zelte auf den Pflastersteinen am Ufer des Kanal Saint-Martin aufgeschlagen. Im 10. Arrondissement, mitten in Paris.

Gleichzeitig mit dem Winterbeginn fordern die „Kinder von Don Quichotte“ die Pariser auf, eine Nacht wie ein „sdf“ zu verbringen. „Wenn zigtausende Franzosen in Zelten übernachten, werden sich die Dinge ändern“, sagt der Schauspieler Augustin Legrand, einer der Drahtzieher der Initiative. Er verlangt, dass die Regierung zusätzliche Unterkünfte für Menschen in Not eröffnet.

Schon in der ersten Nacht übernachteten dutzende junger Nicht-„sdf“ in der Eiseskälte in den Zelten. Anfang der Woche kamen die ersten Prominenten ans Ufer des Kanal Saint-Martin – darunter der alte und die neue ChefIn der französischen Grünen. Die Zelte, in denen die solidarischen Nicht-„sdf“ übernachten, stehen auf einem Gelände, auf dem sich in den vergangenen Monaten hunderte von „echten“ „sdf“ niedergelassen haben.

Die zunächst bis Weihnachten befristete Initiative ist in Frankreich in aller Munde und auf den Titelseiten der großen Medien. Auch die beiden aussichtsreichsten KandidatInnen im Präsidentschaftswahlkampf haben sich jetzt des Themas angenommen. Nicolas Sarkozy, der Rechte, der seit viereinhalb Jahren die Regierungsverantwortung hat, verspricht, er werde die Obdachlosigkeit abschaffen, wenn er im Mai zum Staatspräsident gewählt würde: „Binnen zwei Jahren muss niemand in Frankreich mehr auf der Straße sein.“

Ségolène Royal, die Linke, empört sich auf einem Meeting, es sei ein Skandal, dass immer mehr Menschen arm seien, obwohl sie arbeiteten. Die kommunistische Partei und Obdachloseninitiativen verweisen auf die zigtausenden leerstehenden Wohnungen in Paris und verlangen ihre sofortige Beschlagnahmung.

Der alte Clochard, von dem die französische Mythologie zu wissen meint, dass er manchmal freiwillig auf ein Dach über dem Kopf verzichtet habe, ist tot. Die neuen „sdf“ sind andere Typen von Obdachlosen. Sie sind jung, immer häufiger weiblichen Geschlechts, und immer häufiger gehen sie bezahlten Tätigkeiten nach – für Löhne, die nicht reichen, um eine Wohnungsmiete zu bezahlen. Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts Insee geht rund ein Drittel der „sdf“ einer Arbeit nach.

Seit Anfang des Jahrtausends sind in Frankreich die Arbeitslosenstatistiken radikal „bereinigt“ worden. Das hat einerseits dazu geführt, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Andererseits ist die Zahl der Arbeitslosen, die keine Unterstützung mehr bekommen, um 300.000 gestiegen. Größer geworden ist auch die Zahl jener, die von minimalen Einkommen leben müssen. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich von einer halben Million im Jahr 1990 bis heute mehr als verdoppelt. Immer mehr ArbeiterInnen aller Branchen werden nur noch mit dem gesetzlich garantierten Mindestlohn SMIC bezahlt. Heute verdienen mehr als 17 Prozent der Beschäftigten in Frankreich noch den SMIC. Er liegt bei 1.200 Euro im Monat.

Die große Wohltätigkeitsorganisation Emmaüs, hat ausgerechnet, dass 3,5 Millionen Franzosen unter der Armutsgrenze leben. Was bedeutet, dass sie im Monat weniger als 650 Euro zur Verfügung haben. Nach derselben Quelle leben 6 Millionen Menschen im Land mit dem Minimum. Diese Zahlen – Tendenz steigend – mögen erklären, dass bei einer Umfrage Anfang Dezember jedeR zweite Befragte erklärt hat, er habe Angst, eines Tages obdachlos zu werden.

Regierungschef Dominique de Villepin hat erklärt, dass Zelte keine Lösung seien. Er hat auch gesagt, dass es viele Notunterkünfte gäbe, die nicht ausgenutzt seien. Das Problem, so de Villepin, sei nicht der Mangel an Notunterkünften, sondern die Frage, wie man die Obdachlosen überzeugen könnte, dort hinzugehen.