Gedächtniskultur nach Wunsch

Aleida Assmann skizziert eine gemeinsame europäische Geschichtspolitik. Doch trotz manch genauer Beobachtung lässt sie die sozialen und kulturellen Bedingungen zu sehr außer Acht

Wenn etwas das historische Gedächtnis der Deutschen prägt, dann ist es der Holocaust. Die Erinnerung an ihn hat sich tief in die geschichtliche Identität der Deutschen eingebrannt – selbst bei denen, die ihn leugnen, aufrechnen oder relativieren. Gerade das macht ihn zu einem Testfall für „Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“, wie der Untertitel von Aleida Assmanns neuem Buch lautet. Die Konstanzer Anglistin gehört zu den international anerkannten Koryphäen auf dem Gebiet der historischen Gedächtnisforschung, dem sich die Kulturwissenschaften seit gut anderthalb Jahrzehnten mit unvermindertem Eifer widmen.

Assmann setzt sich zwei ehrgeizige Ziele. Zuerst analysiert sie Formen des kulturellen Gedächtnisses und seiner politischen Rolle; dann skizziert sie Ansätze zu einer gemeinsamen europäischen Geschichtspolitik, die die Nationen Europas über eine gegenseitige Anerkennung ihrer historischen Traumata zu einer gesamteuropäischen Identität führen soll. Dabei kommt dem Holocaust als der zentralen traumatischen Erfahrung im 20. Jahrhundert eine Schlüsselrolle zu, um widerstreitende Wahrnehmungen von Leid und Schuld zu integrieren. Insbesondere die Deutschen müssten lernen, ihre Erinnerungen an das eigene Leid des Zweiten Weltkriegs – Bombenterror und Vertreibung – in einen gemeinsamen europäischen Gedächtnisrahmen einzubringen. Denn in dem ist kein Platz für Aufrechnung, Revanchismus und nationale Partikularismen.

Schön und gut: Doch so weit gespannt Assmanns Perspektive und so intensiv ihr Bemühen um begriffliche Differenziertheit, ihre Thesen kommen letztlich nicht über den Status des frommen Wunsches hinaus. Schließlich löst sie ihre eigenen methodischen Ansprüche nicht einlöst. Deren wichtigster ist: das kulturelle Erinnern – ein diffiziler Apparat, bei dem das Vergessen fast wichtiger ist als das Behalten – muss immer kontextgebunden betrachtet werden, also mit den sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.

Recht hat sie! Aber sie befolgt dieses methodische Gebot zu wenig. Statt dessen kategorisiert sie Formen des kulturellen Erinnerns und referiert anschließend Standpunkte dazu. Zwar sind die Beispiele geschickt gewählt und mit klugen Beobachtungen gewürzt, doch werden sie meist nur kurz angerissen, bevor sie in der jeweiligen terminologischen Schublade verschwinden.

Dabei hätte gerade aus der Sicht einer kontextualisierenden Gedächtnisforschung eine genauere Analyse etwa des Falles Schwerte/Schneider sehr spannend werden können – also das Beispiel des SS-Wissenschaftlers, der sich nach dem Krieg eine neue Identität schuf und als linksliberaler Germanistikprofessor die 68er unterstützte. In ihrer abschließenden Interpretation beschränkt sich Assmann jedoch darauf, zu protokollieren, dass es sich bei Schwerte um einen „diachronen Doppelgänger“ handelt.

Wie aber kommt es, dass jemand überhaupt eine Gedächtnisstruktur ausbilden kann, in der eine Identität die andere scheinbar völlig ersetzt? Muss nicht auch dieses Phänomen in seiner sozialen Bedingtheit selbst gesehen werden? Welche kulturellen Bedingungen versetzten einen Schneider/Schwerte eigentlich in die Lage, ein Ich durch ein anderes auszutauschen?

Folgerichtig klammert Assmann auch ein Problem weitgehend aus, dessen Relevanz sie selbst durchaus andeutet: die Macht. Sie lässt Nationen, Staaten und Institutionen wie monolithische Kollektivsubjekte auftreten, die ihre je eigene Geschichtspolitik machen. Doch ganz so eindeutig lässt sich das nationale Gedächtnis nicht bestimmen. Schließlich – das weiß Assmann selbst – ist die Erinnerung Gegenstand ständiger Kämpfe, wird die geschichtliche Erfahrung nicht von allen geteilt und ist selbst das scheinbar so normative nationale Gedächtnis auch als brüchig, widersprüchlich oder schlicht verlogen denkbar.

Das zeigt sich im Fall der ethischen Wende, die Assmann in der Gedächtnispolitik vieler Staaten im Moment zu beobachten glaubt. Wenn Japan sich für seine Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bei seinen Nachbarn entschuldigt, hat dies auch damit zu tun, dass sich die japanische Außenpolitik in einer nicht mehr bipolaren Welt und angesichts des wirtschaftlichen und machtpolitischen Aufstiegs Chinas neu orientieren muss. Ändert sich hier wirklich die ethische Einstellung oder handelt es sich um ein Mittel der Diplomatie? Schließlich ließ es sich der ehemalige japanische Premier Koizumi trotz internationaler Proteste nicht nehmen, den Yasukuni-Schrein zu besuchen, der auch japanische Kriegsverbrecher ehrt. Nationale Geschichtspolitik kommt oft opportunistischer daher, als Assmanns stark auf das Normative fokussierender Blick es zulässt.

Aleida Assmann hat in ihrem Buch eine Reihe wichtiger Themen mit Sensibilität, Sachverstand und Engagement behandelt. Da sie aber eher einordnet als hinterfragt, endet sie mit einer ebenso berechtigten wie letztlich ratlosen moralischen Forderung an die politische Erinnerungskultur. Wenn man den Menschen die richtige Gedächtniskultur verordnen könnte, dann müsste man sich mit Fragen der Geschichtspolitik gar nicht beschäftigen.

ANDREW JAMES JOHNSTON

Aleida Assmann: „Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“. Verlag C. H. Beck, München 2006, 320 Seiten, 19,90 Euro