OFF-KINO: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Zeit seines Lebens hatte Billy Wilder mit einem nicht unbeträchtlichen Missverständnis zu kämpfen: Man verwechselte seinen sarkastischen Humor mit menschenverachtendem Spott. Doch Ziel seines scharfen Witzes waren vielmehr Heuchelei und Selbstsucht einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nur zu oft ein würdiges Leben verwehrt. Dabei verhalten sich die Hauptfiguren in Wilders Filmen allerdings meist nicht weniger schäbig als alle anderen: Sie sind von den gleichen Vorurteilen geprägt, haben kleinkarierte Moralvorstellungen, gieren nach Erfolg und Geld und müssen erst einen schmerzhaften Lernprozess durchlaufen, ehe die „menschliche Seite“ ihres Charakters doch noch den Sieg davonträgt.
Das ist auch in „Avanti, Avanti!“ (1972), Wilders fünften Film mit Jack Lemmon, nicht anders: Lemmon verkörpert Wendell Armbruster junior, den Vizedirektor eines Konzerns mit zigtausend Angestellten, der nach Ischia reisen muss, weil sein Vater dort während seines jährlichen Kuraufenthaltes bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Zu Hause warten auf ihn Frau, Kinder und der Golfplatz, und genau dahin möchte Wendell auch so schnell wie möglich zurück: ein arrivierter Spießer. Auf Ischia angekommen, wird Wendell jedoch nicht nur mit ausgedehnten Siestazeiten und Unmengen bürokratischer Hindernisse konfrontiert, sondern auch mit einer drallen Engländerin namens Pamela Piggott (Juliet Mills). Denn wie sich herausstellt, hatte Papa Armbruster (die Grabrede, die ihn als treuen Familienmenschen und Stütze der Kirche preist, ist schon vorbereitet) seit zehn Jahren ein Verhältnis mit Miss Piggotts Mutter, die auch gemeinsam mit ihm ums Leben kam. „Avanti, Avanti!“ ist eine Dialog- und Situationskomödie, bei der sich Wilder einer alten Strategie seines Idols Ernst Lubitsch bedient: Stets weiß der Zuschauer mehr als die Figuren im Film. Somit entstehen immer dann komische Momente, wenn man glaubt, nun müssten auch die Charaktere endlich bemerken, was immer es zu bemerken gibt, und ihr Erkenntnisprozess dann doch immer wieder hinausgezögert wird. Und Wendell merkt lange Zeit nur wenig – ehe der Kleinkrieg zwischen dem unsensiblen Pragmatiker und der sentimentalen Romantikerin Pamela am Ende in ein Arrangement führen wird, das dem ihrer Eltern gleicht. (20.1., bei der Wilder-Reihe im Babylon Mitte)
Obwohl seine Filme nicht länger als sieben Minuten dauern, gehört Fred „Tex“ Avery zweifellos zu den wichtigsten Regisseuren der Kinogeschichte. „In a cartoon you can do anything“, lautete sein Motto, und niemand hat diese Maxime jemals derart temporeich und witzig umgesetzt wie er. In der Kompilation „Best of Tex Avery“ sind elf seiner schönsten Cartoons aus der Phase seiner Tätigkeit bei MGM (1942–1955) versammelt, in denen die Grenzen des Logischen und aller physikalischen Gesetze immer wieder gesprengt werden: Urkomischer Wahnsinn um wüste Verfolgungsjagden mit lüsternen Wölfen, verführerischen Rotkäppchen, notgeilen Großmüttern und Loser-Katzen. (OF, 22.–23.1., Eiszeit) LARS PENNING
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