Straße widerlegt Statistik

Das NRW-Familienministerium frohlockt: Die Zahl der Obdachlosen nehme stetig ab. In der Praxis lässt sich das nicht beobachten. Einrichtungen für Wohnungslose haben weiterhin großen Zulauf

VON SUSANNE GANNOTT
UND JANA IDRIS

Eindrucksvolle Zahlen präsentierte Familienminister Armin Laschet (CDU) kurz vor Weihnachten: In NRW gebe es, verglichen mit 1996, 70 Prozent weniger Obdachlose. Rund 15.000 Wohnungslose wurden in 2006 gezählt, 1996 waren es noch 52.000. Dies sei der tiefste Stand seit zehn Jahren, lobte der Minister. Für den extremen Rückgang haben seine Mitarbeiter auch eine einfache Erklärung parat. „Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen zeigen Wirkung“, sagt Laschets Sprecher Johannes Mehlitz.

Gemeint sind damit Projekte im Rahmen des seit 1996 bestehenden Landesprogramms „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“. Sie sollen vor allem präventiv wirken, also drohende Obdachlosigkeit verhindern. Zentrales Instrument sind die so genannten Zentralen Fachstellen. In ihnen werden die verschiedenen Hilfsangebote der Kommunen gebündelt, so etwa Schuldnerberatung, Sicherstellung der Mietzahlungen, psychosoziale Beratung. Betroffene sollen damit Beratung und Hilfe aus einer Hand bekommen. Außerdem sollen die Fachstellen die Hilfsangebote in den Städten, die oft von den freien Trägern der Wohlfahrtspflege organisiert werden, koordinieren.

Aus seinen Erfahrungen kann der Pressesprecher der Diakonie Düsseldorf, Christoph Wand, die positiven Zahlen der Landesregierung allerdings nicht bestätigen: „Es kommen nicht weniger Leute in unsere Einrichtungen.“ Trotz eines tatsächlichen Rückgangs wohnungsloser Familien in der Landeshauptstadt sei der Stand der wohnungslosen Alleinstehenden gleich geblieben. Wand fordert zudem mehr Spezialeinrichtungen, sprich: Hilfen für „schwierige Klientel“. Obdachlose seien oft psychisch krank und alkoholabhängig und bräuchten daher eine ganz spezielle Betreuung.

Kurt Holz vom Diakonischen Werk Rheinland zeigt sich ebenfalls verwundert über die Zahlen. „Nach meinem persönlichen Eindruck ist das nicht feststellbar.“ Auch der Zulauf zu den Tafeln in NRW, bei denen kostenlos Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden, sei nicht geringer geworden.

Bei der Kölner Obdachlosenstation Gulliver am Hauptbahnhof hat man von einem Rückgang der Obdachlosenzahlen ebenfalls noch nichts mitbekommen. „An unseren Gästezahlen hat sich nicht viel geändert, nach wie vor kommen täglich zwischen 200 und 250 Menschen zu uns“, sagt Sozialarbeiterin Stella Gerhardt. In der Station können Wohnungslose duschen, ihre Kleidung waschen und ein Postfach einrichten. Das angeschlossene Café bietet günstiges Essen, eine Info- und Jobbörse sowie Beratungsangebote. Ein großer Teil der Gäste beziehe Arbeitslosengeld II, erzählt Gerhardt, und lebe auf der Straße. In die Notschlafstellen wollten viele nicht gehen, „die sind oft in keinem schönen Zustand“. Viele suchten auch nach einer Wohnung, „aber als Obdachloser hat man auf dem normalen Wohnungsmarkt ganz schlechte Chancen“. An dieser schlechten Situation habe sich in den letzten Jahren wenig verändert. „Dass die Stadt jetzt vermehrt richtige Wohnungen vermittelt, das sehen wir nicht.“

Rainer Best vom Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) in Köln kann den offiziell verkündeten Trend genauso wenig bestätigen. Statistiken seien im Bereich der Obdachlosenzahlen ohnehin schwierig. Diejenigen, die nicht als wohnungslos gemeldet seien oder sich in speziellen Heimen befänden, tauchten in der Regel nicht in den Statistiken auf.

Auch Bert Becker vom SKM Rhein-Sieg wundert sich über die Zahlen: „Das wäre schön.“ Die Wohnungslosenstatistik erwähne außerdem nicht die Personen, die bei Bekannten leben oder einfach irgendwo gemeldet sind. Die Zahlen seien jedenfalls in seinem Kreis seit fünf Jahren gleich. Dennoch hält er die bestehenden Gesetze sowie das Landesprogramm für wichtig. „Ohne sie hätten wir amerikanische Verhältnisse mit Suppenküchen und brennenden Tonnen zum Wärmen.“