Alle Brote wieder

Am 1. 1. wird der Kika zehn Jahre alt. Auch wenn der demografische Trend gegen ihn arbeitet, hat sich der Kinderkanal mit preisgekrönten Programmen und viel Engagement durchgesetzt. Ein Besuch

AUS ERFURT HANNAH PILARCZYK

Die erste Führung durch den Kika endet gegen 13 Uhr in der Kantine. Es dauert etwas, bis alle 20 Sechstklässler ihren Teller mit Spaghetti Bolognese vor sich haben. Als endlich alle mit Nudeln und Saft beschäftigt sind, kommt ein etwa zehnjähriges Mädchen auf Rollschuhen in die Kantine hereingefahren. Ihr Gesicht ist grün, silber und orange geschminkt, ihre Kleider glitzern ebenso. Vor der Tafel mit den Tagesmenüs kommt sie zum Stehen. Während sie liest, beobachten sie die Schulkinder aufmerksam. Dann nimmt ein Junge seinen ganzen Mut zusammen und ruft: „Hallo, Silbermädchen!“ Das Mädchen schreckt auf und fährt schnell weg.

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Am 1. 1. 1997 ging der Kika, damals noch Kinderkanal, auf Sendung. Seitdem sind rund 70.000 Kinder durch die Requisite und Maske, das kleine Studio und die Regieräume geführt worden, erst in einer alten Villa in Erfurt-Brühlervorstadt, seit 2000 im schicken Neubau des MDR-Landesfunkhauses in Hochheim. Dort im ersten Stock sitzt Frank Beckmann, Programmgeschäftsführer des Kika seit 2000, und erzählt von den Anfängen. „Der Kika ist aus einer Not heraus entstanden. Mitte der 90er galt auf dem Weltmarkt längst, dass sich die Produktion von Kinderprogrammen nur noch da lohnt, wo Sendefläche, also ganze Spartenkanäle verfügbar waren. Auf dieses Problem haben ARD und ZDF mit der Gründung des Kinderkanals reagiert.“

Und viel Aufregung damit erzeugt. Ein neuer, gebührenfinanzierter Sender, noch dazu werbefrei – nur um die private Konkurrenz von Nickelodeon und Super RTL in Schach zu halten? Als Nickelodeon 1998 vorübergehend dichtmachte, verstummte zumindest diese Diskussion. Die Debatte, ob die Öffentlich-Rechtlichen nun auch ein Programm anbieten müssen, vor das Eltern ihre Kinder unbegrenzt setzen können, dauerte jedoch noch länger an. Mittlerweile gilt aber auch in den kritischsten Elternhäusern: Wenn schon Kinder-TV, dann Kika.

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Im Spielzimmer sammeln sich zwei Schulklassen aus Bad Salzungen und Georgenthal für die zweite Führung des Tages. An den Wänden stehen überdimensionale Blumen und Lollipops aus Pappmaché. „Wisst ihr noch, worum es in der Sendung geht, die wir gleich drehen?“, fragt Tobias aus der Zuschauerredaktion. Zur Führung gehört die Aufzeichnung eines Ausgabe des Experimentier-Magazins „Kika live“, bei dem die Schüler das Publikum bilden. „So’n Chemie-Projekt!“, platzt es aus einem großen, kräftigen Jungen heraus. Tobias guckt irritiert: „Hm, noch andere Vorschläge?“ „Ich dachte, es geht ums Klugscheißern“, sagt ein kleinerer Junge leise. „Ja“, sagt Tobias, „genau, es geht ums Klugscheißern – lauter Wissen, mit dem ihr vor euren Freunden angeben könnt. Dazu machen wir auch jede Menge Experimente. Hat jemand von euch schon mal so ein richtiges Experiment gemacht?“ „Ich!“ – es ist schon wieder der große, kräftige Junge. Er erzählt davon, wie sie im Wald Kohle suchen sollten und dafür Wasser gekocht haben, damit der Wasserdampf den Geruch der Kohle annimmt und sie so das Feuer finden konnten. Ob er sein Experiment auch in der Sendung später erzählen würde, fragt Tobias. „Na klar!“

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Der demografische Trend arbeitet gegen den Kika. Durch den Geburtenrückgang fehlen dem Sender nach eigenen Angaben mittlerweile fast zehn Prozent seiner anfänglichen Zuschauer – sie sind einfach nicht nachgeboren. Gerade deshalb sieht sich der Sender aber in der Verantwortung, für die immer weniger werdenden Kinder Partei zu ergreifen. „Schauen Sie sich doch mal die Situation im Osten an“, sagt Beckmann. Sein fröhliches Lächeln um Augen und Mund verschwindet. „Ein Viertel aller Kinder hier lebt von Hartz IV. Wissen Sie, wie viel von dem Kinderzuschlag dort monatlich für Schreibwaren und Zeichenmaterial veranschlagt ist? 1,33 Euro! Da müssen Sie ein halbes Jahr sparen, bis Sie mit Ihrem Kind einmal ins Kino gehen können.“

Für diese Kinder ein anspruchsvolles Programm zu machen – das sieht Beckmann als Verpflichtung. Seit 2004 hat der Kika mit „Quergelesen“ ein eigenes Büchermagazin. Mit „Wissen macht Ah!“ begeistert man mittlerweile auch Erwachsene: Der WDR hat im Herbst extra Erwachsenen-Ausgaben der wohl originellsten Wissensshow im deutschen Fernsehen gezeigt. Insgesamt besteht das Kika-Programm zu 16 Prozent aus Nachrichten und Informationssendungen – bei den kommerziellen Kindersendern nimmt dagegen die Werbung fast den gleichen Anteil ein.

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Im kleinen Studio im Erdgeschoss angekommen, gibt es Gerangel beim Platznehmen. In der ersten Reihe machen sich die Jungs breit, auf einer Bank drücken sich vier schmale Mädchen, die auf keinen Fall getrennt voneinander sitzen wollen. Dann fängt Moderatorin Tanja mit den Versuchen an. Sie lässt ein gekochtes Ei durch Unterdruck in eine viel zu enge Flasche saugen, erwärmt eine Cola-Dose über dem Bunsenbrenner, um sie dann von kaltem Wasser durch Überdruck zusammenquetschen zu lassen. Als sich Moderator Lukas zu dem großen, dicken Jungen in die erste Reihe setzt und ihn fragt, ob er auch schon mal ein Experiment gemacht hat, sagt der Nein und schweigt. „Der hat dieses ADS“, sagt sein Lehrer, der in den Kulissen die Aufzeichnung verfolgt. ADS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

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48 fest angestellte Mitarbeiter hat der Kika, dazu kommen noch die Kinderredaktionen bei ARD und ZDF, mit denen man sich gegenseitig zuarbeitet. Über die Hälfte der in Erfurt Beschäftigten arbeitet in der Zuschauerredaktion. Über 15.000 Zuschriften per Brief oder per E-Mail gehen dort jährlich ein – jede wird beantwortet. „Die Kinder haben riesiges Vertrauen in uns. Das müssen wir rechtfertigen“, erklärt Beckmann. Er ist Vater einer sechsjährigen Tochter.

Die meisten Kinder treiben Angst in der Schule und Probleme mit Mitschülern dazu, dem Kika zu schreiben. Manchmal sind es auch Schläge oder sexueller Missbrauch in der Familie. „Als die ersten solcher Zuschriften kamen, hatten wir große Schwierigkeiten, damit richtig umzugehen“, sagt Beckmann. „Kindern mit ernsten Problemen können wir keinen allgemeinen Dankesbrief schicken.“ Aber für die polizeiliche Verfolgung jedes Missbrauchsverdachts konnte man auch nicht die Verantwortung übernehmen. Seit 2003 gibt es die Sendung „Kika-Kummerkasten“, in der auch Themen wie Missbrauch oder Scheidung der Eltern angesprochen werden.

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Nach der Aufzeichnung der Sendung geht es mit der Führung weiter in die Requisite. Zwischen einer Packung hart gekochter Eier, die für das Unterdruck-Experiment vorbereitet wurden, diversen Gummimasken und einem Haufen Plastikbrillen dürfen die Kinder Fragen zum Programm stellen. „Hattet ihr schon mal Tokio Hotel zu Gast?“, will ein Junge wissen. Ja, sagt Tobias. Lange Zeit hing sogar ein Autogramm von Bill, dem Sänger, in der Umkleide – eines Tages sei das aber irgendwie verschwunden … Die wären zwar noch nicht so bekannt, sagt ein Mädchen, „aber könntet ihr auch mal Monrose einladen?“ Monrose ist die neue Band aus der Pro7-Castingshow „Popstars“. Doch, auch unbekanntere Bands würde der Kika einladen, antwortete Tobias. Ob sie noch weitere Wünsche hätten? Ein Mädchen meldet sich: „Können wir jetzt wieder unsere Handys anmachen?“

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18 Cent erhält der Kika von den monatlichen 17,03 Euro GEZ-Gebühren. Nicht viel für einen Sender, der täglich 15 Stunden Programm ohne jede Werbeunterbrechung bietet. Ein Drittel der Sendungen steuert allerdings die ARD bei, ein Drittel das ZDF, nur das letzte Drittel produziert der Kika selbst. Dazu gehört zum Beispiel die schlecht gelaunte Kastenbrot-Puppe Bernd, die 2004 den Grimme-Preis gewann: „Bernd stellt sich stellvertretend für uns dem Gute-Laune-Terror, der unaufhörlich aus dem Fernseher dröhnt und quillt“, begründete die Jury die Auszeichnung.

Und dazu gehört auch der große Geschenkesack Beutolomäus, der sich in der Adventszeit um Kinder und ihre ganz besonderen Wünsche kümmert. In einer Sendung erhält Beutolomäus einen eigenartigen Wunschzettel: „Ich wünsche mir, dass Weihnachten ausfällt!“, steht darauf. Beutolomäus und seine Freunde sind betroffen. Kann ein Kind so etwas Trauriges schreiben? Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach demjenigen, der hinter dem bedrückenden Brief steckt, um ihn zu trösten.

Es sind solche Momente, in denen der Unterschied zwischen dem Kika und den privaten Kindersendern mit ihren dauerfröhlichen Trickserien am deutlichsten wird. „Mit unseren Programmen wollen wir Werte wie Freundschaft und Toleranz vermitteln“, sagt Kika-Chef Beckmann. Figuren wie der überdrehte „Spongebob Schwammkopf“, der zurzeit wohl angesagteste Cartoon bei Kindern wie Kritikern, gefallen dem 41-Jährigen zwar auch. „Aber Serien wie ‚SimmsalaGrimm‘ oder ‚Der kleine Eisbär‘ haben einfach diesen europäischen Hintergrund – sie sind Unterhaltung und Wertevermittlung zugleich.“

Einen Tag nach dem Interview fliegt Beckmann in die USA, um über neue Kooperationen für Trickserien zu verhandeln. Es sollen Formate für den Weltmarkt sein, aber alle in Deutschland produziert. „Ohne internationale Kooperationen lassen sich hochwertige Programme einfach nicht mehr finanzieren – uns geht es darum, künftig mehr Einfluss auf die Inhalte nehmen zu können.“

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Gegen 18 Uhr endet auch die zweite Führung in der Kantine des Kika. Während die Kinder ihre gesammelten Autogramme der Moderatoren vergleichen, dampft in der kleinen Servierstation das Essen. Es gibt – Spaghetti Bolognese. Nur vom Silbermädchen fehlt diesmal jede Spur.