Die Macht, die aus der Pipeline kommt

In Weißrussland hoffen die Menschen auf ein Ende des Gas-Streits mit Russland – verlieren werden sie ihn so oder so

MINSK taz ■ Nur einen Tag vor dem Jahreswechsel ist in der weißrussischen Hauptstadt Minsk überall eine ungesunde Anspannung spürbar. Keiner spricht mehr das Wort Gas laut aus. Und auf die Frage: „Was ist nun, haben sie den Vertrag unterschrieben?“, antworten die Menschen: „An der Westfront gibt es keine Veränderungen.“ Der russische Gaskonzern Gazprom droht damit, am 1. Januar 2007 um neun Uhr die Gaslieferungen an Weißrussland einzustellen. Die Temperaturen liegen derzeit beständig um den Gefrierpunkt. Mit dem nächsten Kälteeinbruch erwarten die Weißrussen minus zehn Grad und weniger.

„Es wird schon alles gut werden“, sagt Ira. Doch wirklich überzeugt davon scheint sie nicht zu sein: Die 76-Jährige erinnert sich noch gut an das Jahr 2004, als Russland schon einmal den Gashahn zudrehte. Ira hat Staatspräsident Alexander Lukaschenko gewählt, der Russland nahe steht. Anders als früher glauben die älteren Menschen nicht mehr an die brüderlichen Gefühle Russlands. Langsam beginnen sie, an der Allmacht Lukaschenkos zu zweifeln.

Dmitri arbeitet als Busfahrer. Auf seiner Route liegt die Haltestelle Gasabfüllstation, wo normalerweise Fünf-Liter-Ballons, die die Minsker auf ihren Datschas benutzen, mit Gas gefüllt werden. „Meine Frau und ich haben einen Kredit für eine Wohnung aufgenommen“, sagt Dmitri. „Wenn jetzt die Preise für Gas, Heizung und Strom steigen sollten, wüsste ich nicht, was wir dann machen sollen. Wir werden wohl am Hungertuch nagen.“ Anja, Studentin an der weißrussischen staatlichen Universität, kann der Situation auch etwas Positives abgewinnen. „Wenn Russland die Gaslieferungen einstellt, verstehen die Menschen vielleicht, wie weit es mit Weißrussland gekommen ist, und gehen auf die Straße.“ Möglich, dass sich dann etwas ändert.

Tamara, Ärztin an einer Minsker Kinderklinik, gibt sich optimistisch. Das Land müsse versuchen, mit Schwierigkeiten jeder Art fertig zu werden, und dürfe sich von niemandem in die Knie zwingen lassen. Sie zahlt von einem Monatseinkommen von gut 200 Euro etwa 1,50 Euro für Gas. „Wenn die Preise steigen, werde ich eben viermal mehr zahlen. Irgendwie werden wir das schon überstehen.“

Wladimir, Dozent für Literatur an der Minsker Universität, sieht das weniger gelassen. Lukaschenko werde versuchen, so lange wie möglich zu pokern, um sich dann schließlich doch Russland zu beugen. Selbst einen Preis von 90 Euro für 1.000 Kubikmeter könne Weißrussland nicht zahlen. So hoch könne man Unternehmer gar nicht besteuern, so viel Geld sei nirgendwo aufzutreiben. „Es wird eine Krise beginnen, es wird Hunger geben. Und Lukaschenko? Um sich zu retten, wird er unser Land Russland anschließen. Denn es ist immer noch besser, Gouverneur zu sein, als ein Niemand.“ Wladimir malt schon ein Schreckensszenario an die Wand. Schon in der Neujahrsnacht werde Lukaschenko im Fernsehen bekannt geben, dass es den souveränen Staat Weißrussland nicht mehr gebe, dafür aber einen Staatenbund. „Um an der Macht zu bleiben“, sagt Wladimir, „schreckt Lukaschenko vor nichts zurück.“

Gleb Labadzenka