Die EU – virtuell und doch konkret

„Die Kunst ist, aus einem Dokument in schrecklichem Englisch herauszukriegen, was es heißt“

Vor fünf Jahren noch war Europa für Margit Heitmann ziemlich weit entfernt. Die Europäische Union wähnte sie in Brüssel, Belgien, nicht in Hamburg – und schon gar nicht in ihrem Büro in der Wirtschaftsbehörde, sechster Stock. Dort wird der Blick aus dem Fenster schon nach wenigen Metern von einer Häuserfront aufgehalten. Auch ihre Aufgaben waren begrenzt, und irgendwann wurde alles zu eng.

Margit Heitmann bewarb sich darum, den Europäischen Sozialfonds in Hamburg verwalten zu dürfen. Ob sie sich seither mehr als Europäerin fühlt? Herzhaft lacht die 49-Jährige auf. „Auf jeden Fall“, antwortet sie und beugt sich leicht vor, um die folgende Aussage noch zu bekräftigen: „Aber in erster Linie bin ich Hamburgerin. In Europa.“

Zur Europäerin zu werden, weiß Heitmann, wird einem nicht eben leicht gemacht. Europa als Gebilde ist abstrakt, und das Regelwerk, das es formt, hochgradig kompliziert. Auch sie hätte es einfacher haben können, hätte sie weiterhin in ihrem alten Job Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Hamburg verwaltet. Stattdessen bearbeitet sie täglich Anträge auf EU-Förderung nach Kriterien, „die von Jahr zu Jahr komplizierter werden“. Der Europäische Sozialfonds (ESF) ist ein arbeitsmarktpolitisches Programm. Rund 400 Projekte allein in der Hansestadt wurden in ihrer Amtszeit dadurch gefördert, an die 70.000 Menschen haben davon profitiert. Manche haben bei einem Träger eine zweistündige Beratung zur Existenzgründung bekommen, andere eine dreijährige Ausbildung. Zurzeit fördert die Behörde mit Mitteln des ESF eine Anpassungsqualifizierung für Beschäftigte im Druckgewerbe, „für die es sonst keinen Topf gegeben hätte“.

Die Teilnehmer der einzelnen Projekte allerdings wissen zumeist nicht einmal, wer sie unterstützt. „Denen ist es egal, woher das Geld kommt“, sagt Heitmann. Die Geldgeber hingegen wünschen sich mehr Beachtung. Alle Träger bekommen mit der Überweisung ihres ESF-Etats einen Aufkleber, auf dem steht: „Dieses Projekt wird gefördert durch den Europäischen Sozialfonds“.

Im Frühjahr war ein ranghoher Abgesandter der Europäischen Kommission in Hamburg, um sich ein Bild davon zu machen, wie die ESF-Mittel angelegt sind. An der Tür eines Weiterbildungsträgers in Altona, den er besuchte, hat er unverhohlen nach dem Aufkleber gesucht. Er fand ihn nicht. Stellvertretend für alle ist Margit Hoffmann rot angelaufen. „Die EU ist noch nicht ganz hier angekommen“, sagt sie: „Das ist ein Problem.“

Bei der Werbung für Europa ist Heitmann auf die Mitarbeit der Multiplikatoren angewiesen. Sie selbst sitzt in der Behörde und verhandelt nicht mit einzelnen Arbeitslosen und Existenzgründern, sondern mit den Geschäftsführern der Träger, die diesen wiederum Angebote machen wollen. Dass die meisten der Teilnehmer gar nicht wissen, dass sie Geld von der Europäischen Kommission bekommen, nimmt ihr nicht den Mut, sondern stachelt die energische Frau zu weiterer Werbung an. Vor kurzem hat sie Flyer drucken lassen, die in den Projekten verteilt wurden. Sie zieht einen hervor. „Dort ist das Zeichen des ESF“, sagt sie. Und grinst. „Und hier das Wappen von Hamburg.“

ELKE SPANNER

Manchmal verirren sich Anrufer in ihre Leitung. Ja, hallo, sagen die, Deutscher Naturschutzring? Entschuldigung, ich hab’ hier dieses Hummelnest, was kann ich tun?

In solchen Momenten erinnert sich Juliane Grüning, dass es eine Welt draußen gibt, die stehen geblieben ist, wo die Umweltverbände einst mit ihrer Arbeit begonnen haben: vor Ort, kleinteilig. „Die Basis“, sagt Juliane Grüning, „ist interessiert an Dingen, die in ihrer unmittelbaren Nähe passieren.“ Diese Basis kann wenig anfangen mit der Welt, die der Computer in ihrem Berliner Büro ihr eröffnet: Juliane Grüning, 32, ist beim Deutschen Naturschutzring (DNR), der Dachorganisation der deutschen Umweltverbände, zuständig für die EU-Koordination.

Das klingt virtuell und weit weg, und das ist es auch. Einerseits. „Andererseits werden 80 Prozent der Umweltgesetze in Brüssel gemacht“, sagt Juliane Grüning. Was auf EU-Ebene entschieden wird, betrifft hierzulande jede und jeden direkt.

Früher oder später müssen sich die Mitgliedsverbände zwangsläufig mit den europäischen Regelungen auseinandersetzen, wollen sie Einfluss nehmen auf die Politik in Brüssel. „Das Problem ist: Wenn ein Thema, zum Beispiel der Feinstaub, in Brüssel aktuell ist, interessieren sich die Leute hier nicht so dafür. Wird es hier aktuell, ist es in Brüssel längst durch.“

An der Schnittstelle sitzt Juliane Grüning. Sie sichtet, filtert, ordnet ein, bewertet. Vor allem aber übersetzt sie. Aus der verklausulierten Behördensprache ins Laiendeutsch: abfallpolitische Absichten des Umweltausschusses im Europäischen Parlament; Finanzierungs- und Programmplanungsinstrumente der EU-Kommission zur Entwicklung des ländlichen Raums; Erklärungen der europäischen Papierindustrie zur Recyclingrate. Ihre Themenpalette ist endlos, ihre Recherchemöglichkeiten sind es ebenso.

Die ausgewählten Nachrichten werden im EU-Rundschreiben veröffentlicht, einer monatlichen Fachzeitschrift des DNR für Mitgliedsverbände und andere interessierte Abonnenten.

Juliane Grüning hat das Glück, ein Studium abgeschlossen zu haben – angewandte Kulturwissenschaften –, das so breit gefächert war, dass sie die Angst, den Überblick zu verlieren, hinter sich gelassen hat. „Die Kunst besteht darin“, sagt sie, „aus einem in schrecklichem Verwaltungsenglisch verfassten Dokument herauszukriegen, was es eigentlich heißt.“

Das ist mitunter schwer. „Unsere Transferleistung bleibt oft deskriptiv“, sagt sie. Für ausgiebige Analysen oder eigene Expertenstudien bleibt wenig Zeit angesichts der Brüsseler Themenflut. „Tatsächlich“, sagt sie, „ist man eher mit Aufräumarbeiten beschäftigt: Man guckt, dass es nicht schlimmer wird.“

Juliane Grüning klingt deswegen nicht resigniert. Wer Umweltschutzpolitik macht, braucht Ausdauer. Und es gibt sie ja, die Erfolge. Bei der Ausweisung von Naturschutzgebieten, beim Grundwasserschutz. Die strengen verbindlichen Wassergrenzwerte beispielsweise verdanken die Menschen in Europa der Arbeit von Juliane Grüning und ihren Kollegen aus der Umweltbewegung.

Das motiviert sie weiterzumachen, insbesondere in der nahen Zukunft: „Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft“, sagt Juliane Grüning, „wird sechs Monate dauern. Die Welt wird sich in dieser Zeit nicht umdrehen.“ Aber für den Deutschen Naturschutzring wird sie eine einmalige Chance bieten, mit seinen Forderungen von einer breiten internationalen Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

Juliane Grüning stellt den Erscheinungsrhythmus ihrer EU-Umweltnachrichten während dieser Periode von monatlich auf täglich um.

HEIKE HAARHOFF

„Menschen darf mannicht trennen. Das Abitur meiner Schüler ist in ganz Europa gültig!“

Im Februar wird Uwe Seidler wieder nach Frankreich fahren zu einer besonderen Partnervermittlung. Nicht aus persönlichen Gründen, Seidler ist verheiratet, er will seine Schule wieder „verkuppeln“ – mit Europa, genauer mit französischen Mädchen und Jungen, die im gleichen Alter wie seine Schüler und Schülerinnen sind.

Er hat das schön öfter getan. Je konkreter Europa ist, umso selbstverständlicher ist es. Seidler ist 52 Jahre alt und Schulleiter des Runge-Gymnasiums in Oranienburg nördlich von Berlin. Er selbst ist ein bodenständiger, sesshafter Mann – bis 1989 allerdings nicht ganz freiwillig.

Seidler hatte immer im Schatten der Berliner Mauer gelebt, und es war auch für ihn ein Schlüsselerlebnis, als die Grenze aufging: „Wie nah der Westen war, wie nah das alles war.“ Theoretisch wusste er natürlich auch, dass dahinten Westberlin lag, Reinickendorf mit Frohnau, Waidmannslust und Tegel – logisch war alles klar –, doch praktisch fehlte wohl das eigene Erleben, dass dort Menschen waren wie er selbst. Seidler schüttelt heute noch den Kopf, sagt dann: „Menschen darf man nicht trennen.“

Seidlers Mauererfahrung ist wie eine Parabel auf Europa. Damals war Uwe Seidler Lehrer für Mathematik und Physik in einer Schule im benachbarten Hennigsdorf. Nach der Wende kam er ans Gymnasium nach Oranienburg. Seit 1992 und nach einem postgradualen Studium ist er auch Lehrer für politische Bildung und unterrichtet Themenfelder wie Weltpolitik, Sicherheitspolitik und natürlich – Europapolitik. In den elften, zwölften und 13. Klassen mit jeweils drei Wochenstunden. Vieles wird dabei so kontrovers diskutiert wie anderswo auch, etwa die Osterweiterung. Anderes, wie die Euroeinführung, ist kein Aufreger mehr. 16-, 17-Jährige haben kaum noch eigene Erfahrungen mit der D-Mark, sagt Seidler.

Er steht auf, greift ein Lehrbuch, blättert – Bilder, Grafiken, Zitate. Die Osterweiterung 2004 steht in diesem Buch noch vor der Tür. Natürlich, was die aktuelle Politik angehe, laufen solche Bücher den Entwicklungen bald hinterher. Seidler greift deshalb gern zu Zeitungsartikeln, geht ins Internet, lässt seine Schüler mit anderen Schulen chatten. Doch der beste Europaunterricht ist der, der Schüler zusammenführt. Schüleraustausch, jahrgangsübergreifende Fahrten, gemeinsame Schulprojektarbeit wie die zum Thema „Religion in Ihrem Umfeld“ mit je einer Schule aus Tschechien, Griechenland, Italien und eben Oranienburg. Videos entstanden, Besuche folgten, die Oranienburger waren in Tschechien, Italiener kamen hierher.

Am 22. Januar, aus Anlass der deutschen Ratspräsidentschaft, ist der nächste Projekttag: „Europa in Deiner Stadt“. Die Schüler sollen erleben, wie europäische Entscheidungen hier umgesetzt werden, dazu wird eine Stadtverordnetenversammlung simuliert. Das Schöne an solchen Tagen ist, dass Politiklehrer Seidler nicht nur die knapp 50 Schüler aus seinem Unterricht erreicht, sondern alle 540. Und dann kann er eine europäische Tatsache wiederholen, die er jetzt ausruft, als säßen alle schon vor ihm: „Ihr habt ein Abitur, das ist in ganz Europa gültig!“ THOMAS GERLACH