Martin Unfried über ÖKOSEX: Der Tod und die Kernfreilegung
Ein Prost auf die EU! Doch was wäre, wenn uns das Kernkraftwerk Forsmark 1 um die Ohren geflogen wäre?
Ich bin Emotionaleuropäer. Ich habe ein blaues T-Shirt mit Herz, und da steht: „I love EU“. Besonders um den Jahreswechsel herum muss diese Liebe stark sein. Da muss ich mir im Kreise der Verwandten und Bekannten immer EU-Kritik vom Feinsten anhören. Weil ich ja in Maastricht wohne und weil das ja bekanntlich in Belgien liege, bei Brüssel.
Auch Ökosex-Liebhaber wie mein Freund Dommi (PV-Dach, Solarthermie, Holzzentral, Erdgasauto und Umweltinitiativen-Kampferfahrung) können ganz gemein sein zu meiner EU. Der schrie erregt beim weihnachtlichen Umtrunk, die EU sei doch „sowieso“ „ bekanntlich“ in den „Klauen“ der „Lobbyisten“ der „Großindustrie“. Das sehe man ja an der Reach Chemikalienreform. Alles verwässert, kein Verbraucherschutz mehr, alles exekutiert im Dienste der neoliberalen Globalisierungsfanatiker.
„Für mich bitte noch ein Heubacher Pils“, hielt ich dagegen, um erst mal Zeit zu gewinnen. Ich erläuterte sachlich, dass Reach tatsächlich ambitiöser von der Kommission geplant war. Das heiße aber noch lange nicht, dass die EU-Umweltpolitik Murks sei. „Wer hat denn“, brüllte ich besonnen, „die Motorennorm Euro (1–4) Schritt für Schritt durchgesetzt? Und den Rußfilter wegen der kommenden Euro 5? Ja, wer denn? Die deutsche Regierung vielleicht?“ Dommi glotzte. Dommi schluckte. Ich echauffierte mich weiter: „Und wer zwingt Deutschland, seinen lächerlich hohen Allokationsplan für die Zuteilung von CO2-Zertifikaten für den Emissionshandel nach unten zu korrigieren? Ja, wer denn? Der Bundespräsident?“ Nein, schrie ich, das tue die Emissionshandelsrichtlinie. Das bewirke der Acquis Communitaire, das wunderbare europäische Recht, das uns aus den Fängen der nationalen Egoismen befreie und den Geist der europäischen Vision zum Leben bringe.
Ich hatte mich ein bisschen in Rage geredet und endete mit einem kräftigen: „EU o muerte!“
Dommi holte noch ein Heubacher. Apropos Tod und EU. Wir wechselten das Thema und sprachen über das Sommermärchen 2006, über die glücklichsten Stunden der Europäischen Union, als die Elche Schwein gehabt hatten. Ich holte den Novemberbericht der Gesellschaft für Reaktorsicherheit raus, die Kinder zündeten die Kerzen an, und wir lasen mit verteilten Rollen die Poesie der nicht eingetretenen Katastrophe: „Im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark, Block 1, fiel am 25. 7. 2006 in Folge einer elektrischen Transiente, die in einer Freiluftschaltanlage außerhalb des Atomkraftwerksgeländes ausgelöst wurde, die gesicherte Wechselstromversorgung in zwei von vier Strängen aus.“
Im Kachelofen knisterte es gemütlich. Alle hielten den Atem an, denn es kam unsere Lieblingsstelle. „Unterstellt man einen gleichzeitigen Ausfall aller vier Redundanzen der gesicherten 500-V-Wechselstromversorgung, wären bei dem aufgetretenen Ereignisablauf in Forsmark 1 sowohl die gesicherten als auch ungesicherten Wechselstromschienen in der Notstromanlage ausgefallen und die daran angeschlossenen Verbraucher nicht verfügbar gewesen.“ Wir dachten an Michel aus Lönneberga und an die Villa Kunterbunt.
„Aufgrund der dann nicht verfügbaren RDB-Bespeisung wäre es ohne wirksame Gegenmaßnahmen im weiteren Ereignisablauf zur Kernfreilegung gekommen.“ Ich bin dankbar, dass es nicht dazu kam. Eine Kernfreilegung wäre nicht schön gewesen. Sie hätte Folgendes bedeutet: Der Vorstandschef von Vattenfall, der Betreiber von Forsmark, wäre im Herbst 2006 nicht energiepolitischer Berater von Angela Merkel geworden. Utz Claassen, der Chef von EnBW, hätte im Dezember 2006 keinen Antrag zur Laufzeitverlängerung für Neckarwestheim 1 gestellt. Ministerpräsident Oettinger hätte nicht verkündet, dass das eine Superidee sei. Kommissar und Sozialdemokrat Verheugen hätte keine Pro-Atom-Argumente entdeckt. Und natürlich hätten mehr Menschen in Deutschland zu atomstromfreien Ökostromanbietern gewechselt. Weg von Vattenfall etwa. Aber braucht es dafür eigentlich eine Kernfreilegung? Ich meine: nein.
www.atomausstieg-selber-machen.de
Fragen zur EU-Politik? kolumne@taz.de Morgen: Jörn Kabisch DAS GERICHT
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