berliner szenen Bier für schlechte Tage

Warten auf den Ton

In dem Café, in dem ich arbeite, nahm kürzlich, an einem Sonntag gegen zehn Uhr, ein schwankender Herr in mittleren Jahren am Tresen Platz, um eine trunkene Nacht mit einem ersten Kaffee zu beschließen. Das Streichholz vibrierte, und schon holte er zu einem Monolog aus: „Ich hab da ne Frau kennengelernt, heut Abend.“ Die nächste Flamme und: „Ham wir beide uns nich kennen gelernt heut Nacht?“ Danach verlangte er ein Bier. Als ich es ihm verwehrte, zog er mürrisch grunzend von dannen. Das ist unangenehm, aber nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war nur, dass er wenig später im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses ein Fenster öffnete, um mit stierem Blick zu mir herüber ein Bier und ein paar Zigaretten zu genießen. Ist das diese lottrige Unterschicht, von der alle reden?, fragte ich mich. Die Nacht hört bei ihnen nie auf – und damit auch nicht das Trinken. Das Tageslicht ist kein Argument.

Um zwölf stand der Mann immer noch am Fenster, die Ellenbogen abgestützt, ein Bier in der Hand, eine Zigarette. Ob der mich jetzt hasst, weil ich ihm keinen Alkohol gegönnt habe? Ein schwer einschätzbarer Blick, der sich nicht abwendet, wirkt gefährlich. Um zwei war er auch noch da, jetzt allerdings mit einer vertrockneten Sonnenblume neben sich und seinem Bier. Mittlerweile bin ich mehr als irritiert: Beim Versuch, meinen Beobachter zu ignorieren, starre ich so oft aus dem Fenster wie nie zuvor. „Der Typ da drüben“, erklärt mir ein Gast, „das ist ein ganz toller Pianist. Nur manchmal hat er ein paar schlechte Tage, aber danach klimpert der umso manischer.“ Seitdem bleibt die Musik aus, wenn ich arbeite, damit kein Ton von gegenüber mir entgeht, aber ich höre einfach kein Klavier. CORNELIA GELLRICH