Unbeschwerte Normalität

Urlaub am anderen Ende der Wüste: Am Roten Meer genießen nicht nur Israelis Sommer, Sonne, Strand. Eilat, der einstige Beduinenflecken am Roten Meer, ist auch ein Taucherparadies

Alle spucken in ihre Taucherbrille. „Jetzt verreiben“, ruft die Tauchlehrerin

von ROBERT B. FISHMAN

„Tauchen kann jeder“, behaupten die jungen Leute am Strand von Eilat, für die die Hippiezeit nie zu Ende ging. In ihren aus Brettern und Netzen gezimmerten Ständen erklären sie Urlaubern das Leben unter Wasser. Der junge Mann formt aus Daumen und Zeigefinger einen Kreis. „Das heißt: alles okay. Wenn es dir gut geht, erwidere es, wenn nicht, gib mir ein Zeichen.“ Finger nach oben zum Beispiel heißt auftauchen – „aber nicht zu schnell, sonst bekommst du Probleme mit dem Druck. Wenn Wasser in die Brille kommt, halte die Luft an und atme durch die Nase aus. So.“ Nach zehn Minuten Einführung ins Tauchen steht wieder eine Gruppe Tauchnovizen in schwarzen Neoprenanzügen und Taucherflossen, die Unterwasserbrillen in der Hand, unsicher am Kieselstrand.

Auf der anderen Seite der Bucht weht die schwarz-weiß-grün-rote Flagge des Königs. „Die größte Fahne der Welt“, erklärt der Tourguide. Sie gehört dem haschemitischen König von Jordanien wie das Ostufer des Golfs von Eilat mit der Stadt Akaba. 17 Kilometer misst das schmale Stück Israel am Roten Meer von der ägyptischen bis zur jordanischen Grenze. Dazwischen: die Tauchschulen, ein Hafen, in dem Tag und Nacht graue Frachtschiffe japanische Kleinwagen ausspucken und Hotels, Hotels, Hotels. Das „Dan“, das „Princess“, das „Isrotel“, der ganz neue Luxuspalast „Harrods“. Weniger als vier Sterne trägt keines der Betongebirge an der von schicken Läden und ramschigen Ständen gesäumten Strandpromenade.

Auf Kommando spucken alle in ihre Taucherbrille. „Jetzt verreiben“, ruft die Tauchlehrerin. Alle gehorchen und setzen ihre nun anlaufsicheren Gläser auf. Der dicke, weiche Neoprenanzug schützt vor dem frischen Nordwind, der über das tiefblaue Wasser bläst. Selbst im Winter fällt die Temperatur des nördlichsten tropischen Meeres kaum unter 22 Grad. Bei 20, 30 Metern Tiefe erreicht das Wasser die Unterkante der Taucherbrillen. „Gleichmäßig durch den Mund atmen“, hat die Tauchlehrerin immer wieder gesagt. Fünf Meter lange Schläuche verbinden die Mundstücke der Taucherausrüstungen mit den Sauerstoffflaschen, die auf einem Floß an der Oberfläche schwimmen. „Snuba-Diving“ heißt diese besonders sichere Variante des Tauchens ohne Flaschen auf dem Rücken. Weiteratmen nicht vergessen. Leise steigen die Luftblasen aus dem Mundstück nach oben. Ab und zu tauchen gelbe, orangefarbene und graue Fische aus dem Blaugrau auf. Am nahen Meeresboden dösen einige von ihnen in den Armen der weißen Seeanemonen, die sich in den Wellen wiegen. Manche Korallen gleichen bunten, runden Sofakissen andere den Zweigen bizarrer, rosa-weißer Bäume. Die Unsicheren unter den Tauchnovizen hat die Lehrerin an die Hand genommen. Immer wieder fragt sie per Handzeichen „alles o.k.?“.

Zurück an Land gibt es eine heiße Dusche mit Blick in die steil zum Meer hin abfallenden braunen Felswände der Negevwüste. Gut 400 Kilometer bizarre Felsformationen, von winterlichen Sturzregen ausgewaschene Schluchten und weite, Mondlandschaften ähnliche steinerne Hochebenen trennen Eilat vom dicht besiedelten Zentrum des Landes. Am Roten Meer leben Israelis für ein oder zwei Wochen im Jahr ihren Traum von unbeschwerter Normalität: Sie genießen Sommer, Sonne, Strand.

Am anderen Ende der Wüste schlagen in Sderot und anderen Grenzorten jeden Tag die Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen ein. Den Kindern von Sderot hat ein Millionär für ein paar Tage Hotelzimmer in Eilat gemietet. Jetzt ziehen sie ausgelassen über die Promenade und bestaunen durch die Fenster des Unterwasserobservatoriums Coral World die bunte Welt auf dem Grund des Roten Meeres. Erholsame Nächte ohne Luftalarm und normale Tage im Sonnenschein geben ihnen eine Ahnung davon, wie ein Leben im Frieden aussehen könnte.

Der einstige Beduinenflecken am Roten Meer zieht neben Scharen von Urlaubern Abenteurer und Wüstenfreaks wie Alfonso an. Der Schweizer hat in Nordafrika und vielen Ländern Asiens vor allem für das Rote Kreuz Hilfstransporte organisiert. Heute zeigt er Touristen die Geheimnisse der Wüste. In der scheinbar gottverlassenen Einsamkeit, die direkt am Rande des 55.000-Einwohner-Städtchens beginnt, leben Wölfe, Schakale, Gazellen, Steinböcke und Tiere, von denen die meisten Europäer noch nie etwas gehört haben. Alfonso zeigt den Touristen ihre Spuren.

„Den kleinen Bruder des Elefanten“ nennen die Afrikaner die frechen, braunen Fellknäuel, die vor den Fenstern mancher Hotels auf Brocken warten, die von den Tischen der Gäste abfallen. Von weitem sehen sie aus wie Murmeltiere. Draußen in der Wüste leben sie in Rudeln, die auseinanderstieben, wenn Menschen sich nähern. Meistens haben die Klippschliefer und die anderen Wüstenbewohner aber ihre Ruhe. „Die Wüste macht den Städtern Angst“, sagt Alfonso, während er seinen Landrover sicher über die holprigen Stein- und Geröllpisten vorbei an steinernen Fratzen und Fabeltieren steuert. Hier sieht ein Felsen aus wie eine riesige rosa-gelbe Kröte, dort eine Wand wie das Abbild eines Außerirdischen. Die Kamele, die Touristengruppen auf Pfaden durch die karge Landschaft tragen, fressen hin und wieder eines der letzten Blätter, die an den ausgetrockneten Büschen hängen. Seit zehn Jahren hat es im südlichen Negev nicht mehr geregnet. Nur wenige der schütteren Büsche und der bizarr geformten Akazien überstehen die lange Dürre.

Neun von zehn Israelis leben in Städten. Die Stille zwischen den Felsen des Negev wirkt auf viele befremdlich, auf manche bedrohlich. In der klaren Luft leuchten abends die Sterne heller als anderswo. Kein Licht stört.

Nach einem Tag in der Wüste erscheint Eilat wie ein lautes Ufo, das sich auf dem Weg in die Welt an diesen steinigen Strand verirrt hat. Wenn die untergehende Sonne die steil aufragenden Felsen hinter den Hotels in weiches rosa Licht taucht, strömen die Touristen in den rotbraunen Klotz, den die Einheimischen spöttisch den „dritten Tempel“ nennen: ein Einkaufszentrum mit Klamottenläden, Supermärkten und Restaurants, deren Besitzer mit Sonderpreisen werben. Der israelische Finanzminister hat die Läden in Eilat – und davon gibt es reichlich – von der Mehrwertsteuer befreit. Dennoch ist manches teuerer oder jedenfalls nicht billiger als anderswo in Israel. Aber was soll’s. Man hat schließlich Urlaub und man gönnt sich ja sonst nichts.