Der Krieg scheint vergessen

Erlebnissplitter von Konfliktzonen in Israel. Eindrücke aus dem Grenzgebiet in Galiläa und dem palästinensischen Flüchtlingslager Dheischeh, von vagen Hoffnungen der neuen Generation und der „Festung“ Flughafen von Tel Aviv

von GEORG BALTISSEN

Es ist Sabbat. An der libanesisch-israelischen Grenze in Rosch Hanikra tummeln sich die Besucher. Der Krieg gegen die Hisbollah ist erst wenige Monate her. Mit der Seilbahn fahren die Touristen den steilen Felsen bei Rosch Hanikra hinunter auf Meereshöhe. Dort kann man einige Grotten besuchen und sich an den Taten der ehemals terroristischen jüdischen Organisationen erfreuen. Stolz verkündet ein Schild, dass es an dieser Stelle im Jahre 1948 gelungen ist, die von den Briten erbaute Zugverbindung zwischen Beirut und Tel Aviv zu sprengen – und damit den möglichen Nachschub der arabischen Armeen bei ihrem Angriff auf den neu gegründeten israelischen Staat empfindlich zu unterbrechen.

An der Militärstation von Rosch Hanikra fährt ein Polizeiwagen vor. Im Fonds sitzt ein arabisch aussehender Mann. Seine Augen sind mit einer schwarzen Binde bedeckt. Er wird auf das Militärgelände gebracht. Einige Israelis sehen gespannt zu, bis der Mann, abgeschirmt von Dutzenden Soldaten, aus dem Auto ins Haus geführt wird. Ein Hamas-Kämpfer oder ein Angehöriger der Hisbollah, der vielleicht sogar ausgetauscht werden soll? Eine Erklärung gibt es nicht. Die Zuschauer wenden sich ab.

Der Krieg scheint vergessen. Und die Aufräumarbeiten überlässt man gerne der Armee und der Polizei. Bei der Fahrt durch das obere Galiläa, das von Wäldern bedeckt ist und einen sehr grünen Eindruck hinterlässt, fallen nur an ausgesuchten Orten die zahlreichen Verbrennungen auf, die die Katjuscha-Raketen der Hisbollah im Gehölz hinterlassen haben. Schäden an Häusern sind hier nicht zu registrieren. In Bar-Am, dem Ort mit den Ruinen einer antiken Synagoge aus dem zweiten bis vierten Jahrhundert, feiert eine arabische Familie mit Arrak den Sabbat. Sie sind Angehörige der früheren Einwohner des Dorfes Bar-Am, denen bis heute die Rückkehr in das Dorf ihrer Väter und Mütter verweigert wird. Wiederholt haben sie demonstriert, um die Rückkehr zu erzwingen. Aber die israelische Regierung weigert sich. Ein Präzedenzfall heimkehrender Palästinenser wäre das Letzte, was sie in Galiläa brauchen könnte. Vom Dorf selbst stehen neben der antiken Synagoge noch die Kirche, die Moschee und ein paar zerfallene Häuser. Der Ort ist touristisch ausgewiesen, und das Tourismusministerium verlangt Eintritt für den Besuch.

Mohammed, der Kellner

Er ist 24 Jahre alt. Seit seinem siebten Lebensjahr lebt er im evangelischen Kinderheim von Beit Dschala. Auch heute noch. Das hat einen einfachen Grund. Mohammed arbeitet gleich neben dem Kinderheim in der Abrahams-Herberge in Beit Dschala. Nur für seine Ausbildung zum Hotelfachmann hat er Beit Dschala für einige Monate verlassen. „Ich habe auch in Deutschland gelernt,“ sagt Mohammed, der ein paar Brocken Deutsch spricht. „Und demnächst fahre ich wieder nach Deutschland, in Osnabrück mache ich ein Praktikum.“

Mohammed arbeitet in der Abrahams-Herberge an der Rezeption. Er ist klein und sehr schlank. Jungenhaft. Von seiner Familie wurde er verstoßen, weil seine Mutter bei der Geburt starb. So kam er ins Kinderheim. Nachtragend ist Mohammed nicht. Er hat nichts dagegen, 15 deutsche Journalisten ins Haus seines Vaters im Flüchtlingslager Dheischeh bei Bethlehem zu bitten. Dheischeh heißt „Bewunderung“. So äußerte sich jedenfalls der osmanische Herrscher Ahmad Pascha im Jahre 1810 über den lieblichen Berg bei Bethlehem. Heute ist Dheischeh ein Konglomerat von wild gebauten Häusern mit engen Gassen, die den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon ähneln. Von der Hauptstraße entlang dem Lager, das ab 1988 während der ersten Intifada von einem vier Meter hohen Zaun abgesperrt wurde, weil hier immer wieder Steine auf die israelischen Siedler auf der Fahrt nach Hebron geworfen wurden, geht es den Hügel hinauf an kleinen Geschäften vorbei zum Haus des Vaters. Im Wohnzimmer des Hauses gibt der Patriarch der Familie eine Art Pressekonferenz. Nicht ohne Stolz erzählt er, dass er 14 Kinder und 22 Enkelkinder hat. Nationale Pflicht erfüllt, heißt die unausgesprochene Botschaft. Drei Kinder mit ihren Familien wohnen bei ihm im Haus. Geboren sei er um 1936, und nach der Flucht im Jahre 1948 aus den nahen Dörfern bei Bethlehem hätten sie auf dem Boden geschlafen. Verdingt hat sich der Vater als Tagelöhner. Zur Schule gegangen ist er nicht. Zweimal habe er sein früheres Dorf besucht, einmal im Jahre 1970, illegal, und einmal im Jahre 2000. In der Hand hält er den Schlüssel zu seinem alten Haus. Wie vielen anderen Palästinensern dient ihm dieser Schlüssel als Beweis seines Rechts auf Rückkehr, auch wenn er selbst nicht wirklich daran glaubt, jemals in sein altes Dorf zurückzukehren.

Während des Vortrags steht Mohammed stumm an der Seite seines Vaters. Er lächelt. Die Distanz zu seinem Vater ist spürbar. Die Welt der alten Palästinenser hat nichts mehr zu tun mit den vagen Hoffnungen ihrer Nachfahren.

Abschied aus Israel

Der Flughafen von Tel Aviv gleicht nach all den Modernisierungen der vergangenen Jahre einer mittelalterlichen Festung. Zäune umziehen ihn. Gräben von mehreren Metern Tiefe machen jede Annäherung unmöglich. Kilometerweit vorgelagert beginnen die ersten Kontrollen von Ausweisen und Fahrzeugen. Intensive Befragungen begleiten den Besucher am Flughafen selbst. Und immer wieder neue Kontrollen des Koffers. Nach dem dritten Röntgen wissen selbst die Sicherheitsbehörden nicht mehr, was sie jetzt noch machen können. Der Koffer wird ausgepackt und alles nach Gusto wieder verstaut. Der unverschlossene Koffer wird bei der Fluggesellschaft aufgegeben. Es ist der Tag, an dem in Deutschland bekannt wird, dass angeblich einige Personen am Flughafen Frankfurt einen Anschlag auf ein Flugzeug der israelischen Fluglinie El Al geplant haben. Vielleicht ist es deshalb verständlich, dass auch der aufgegebene Koffer nochmals einer Visitation unterzogen wird. Nicht verständlich aber ist es, dass der Passagier bei der Ankunft auf dem Flughafen in Frankfurt feststellen muss, dass die Hälfte der Flasche palästinensischen Arraks in den Koffer gelaufen ist, weil die Behörden die Flasche nach der Überprüfung ihres Inhalts nicht wieder verschlossen haben. Und dass das Geschenk mit den Ohrringen, gekauft bei Ibrahim Bader im christlichen Viertel der Altstadt von Jerusalem, verschwunden ist.