„Lasst eure Stimme hören!“

AUGENZEUGIN Brennende Polizeiautos, schießende Polizisten und sehr viel Solidarität – die Berlinerin Nora Mbagathi berichtet von ihren Erlebnissen bei den Demonstrationen in Kairo

■ 23, stammt aus Berlin und studiert seit drei Jahren an der Amerikanischen Universität in Kairo Nahostwissenschaft.

Es ist zehn Uhr abends in Kairo. Ich sitze mit zwei Freundinnen in meiner kleinen Wohnung im Stadtviertel Downtown bei einer Flasche Wein. Ich habe schon viele Abende so verbracht. Aber dieser ist anders, denn morgen „riskieren wir alle für unser Land unser Leben“ , wie Salma trocken bemerkt. Wir lachen. Wirklich glauben wir daran nicht.

Wir schweben zwischen freudiger Erregung und Nervosität, aber ich weiß, dass es für meine Freunde Ernst ist. Sie sind Teil der ägyptischen Demokratiebewegung, sie haben lange auf das gewartet, was jetzt hier passiert, und dafür gekämpft. Ich fühle mich mit ihnen und ihrem Land inzwischen so verbunden, dass ich nicht aus Schaulust zu dem Protest gehen werde. Die Entwicklungen hier sind mir wichtig, und ich bin ein Teil davon.

Am nächsten Morgen, am Freitag, fahren wir zu einem anderen Stadtviertel, um uns dort mit Freunden zu treffen. Mir ist es auch ganz lieb, mein Auto aus Downtown herauszuschaffen. „Nimm lieber deine Ohrringe raus, sonst reißt dein Ohrläppchen, wenn sie dich festhalten“, sagt Nada zu Mariam, bevor wir uns dem Protestzug zum zentralen Tahrir-Platz anschließen. Die Stimmung ist fröhlich. Wir rufen Leuten, die auf ihren Balkonen stehen, zu: „Lasst eure Stimme hören, wer herunterkommt, wird nicht sterben.“ Nur eine Stunde später hustet mir Mariam unter Tränen zu: „Ich glaube, wir haben uns geirrt.“

Das erste Tränengas trifft mich überraschend, und mir bleibt die Luft weg. Freunde schleppen mich zu einer nahe gelegenen Tankstelle und übergießen mein Gesicht mit Essig und Cola. Mariam drückt mir eine Maske aus Papier in die Hand. Diese Mittel sollen helfen. Aber wie ich da so hocke und krampfhaft versuche, mir nicht die Augen zu reiben, habe ich nicht den Eindruck, dass sie es tun.

Plötzlich brennt vor uns ein Polizeiwagen, und die Menge kann auf die bis dahin gesperrte Brücke nach Downtown rennen. Aber im Gedränge verlieren wir uns. Nur Mariam ist noch bei mir. Wenn man sich solche Situationen vorher vorstellt, denkt man an heldenhaftes Zusammenstehen und das Umklammern von Händen. In der Realität sind die anderen plötzlich weg. Wir sehen unsere Freunde erst am nächsten Morgen wieder.

Auf dem letzten Stück der Brücke fliegt mehr Tränengas als zuvor. Als ich meine Augen wieder öffnen kann, sehe ich, dass um uns herum niemand mehr ist und dass sich zwei Wasserwerfer langsam auf uns zu bewegen. Mariam und ich rennen zurück. Das ist eine gute Idee, denn kurz darauf fängt die Polizei an, mit Gummigeschossen auf Kopfhöhe zu zielen. Blutende Menschen werden an uns vorbeigetragen.

Irgendwann gelingt es den Demonstranten, die Polizei zurückzudrängen, und irgendwann kommen auch wir von der Brücke herunter und fast bis zum Tahrir-Platz. Es ist dunkel geworden, und ich habe meiner Mutter versprochen, wenigstens nicht nachts zu demonstrieren. Ich sollte nach Hause gehen, aber zu Hause, nur wenige hundert Meter entfernt, ist auf der anderen Seite des Platzes, und da brennt inzwischen die Stadt. Jedenfalls sieht es so aus. Dann rufen Leute uns zu, dass die Polizei scharf schießt. Mariam und ich rennen zurück über die Brücke. Mit zitternden Knien erreichen wir ein Hotel. Dort erfahren wir, dass eine Ausgangssperre verhängt wurde, die wir bereits brechen.

Wir erreichen mein Auto und finden bei Freunden in einem anderen Stadtviertel Unterschlupf, wie viele andere auch. Wieder ist es zehn Uhr abends in Kairo, und ich schaue auf die Leute in der Wohnung, die sich um Fernseher und Telefon gruppieren. Es fällt mir schwer, Tränen zurückzuhalten. Ich habe heute so viel Solidarität erlebt. Fremde, die sich darum kümmerten, dass man in Ordnung war, Leute, die Tränengasbomben nahmen und sie in den Nil warfen, und Männer, die sich in Paniksituationen schützend vor uns stellten. Es war überwältigend.

Unterwegs hatten wir einen Anhalter mitgenommen. Wie sich herausstellte, war er ein Polizist, der die Uniform ausgezogen hatte und jetzt an seinem Beruf zweifelte: „Ich weiß gar nicht, wie ich das machen konnte! Ich habe eine Familie, Frau und Kind, bekomme nur 500 Pfund im Monat! Wenn du Befehle verweigerst, drohen sie dir, deine Kinder zu töten. Ich bin raus! Das war’s für mich.“ Haben wir gewonnen? NORA MBAGATHI