Der schwere Schritt weg vom Leben auf der Straße

OBDACHLOSIGKEIT Für Frauen gibt es viel zu wenige Zufluchtsorte. Häufig sind die Notunterkünfte lediglich auf die Bedürfnisse von Männern zugeschnitten, oder die Aufnahme ist zu kompliziert

■ Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt, dass der Anteil obdachloser Frauen in den letzten 15 Jahren deutlich angestiegen ist. Allerdings seien Frauen als Zielgruppe der Obdachlosenhilfe Mitte der 80er „entdeckt“ worden, sodass mit dem Angebot die Nachfrage erst ersichtlich werde. Gleichzeitig sei eine vermehrte Obdachlosigkeit bei Frauen auch ein Zeichen steigender Gleichberechtigung, denn: wo mehr Selbstständigkeit, da mehr Risiko.

■ Wesentliche Unterschiede in der Obdachlosigkeit bestünden jedoch trotzdem. So seien obdachlose Frauen im Schnitt jünger als Männer und kürzer wohnungslos, weil besser sozial eingebunden. Auch hätten Frauen laut BAGW weniger Scheu, Hilfe anzunehmen. Wenn sie trotzdem obdachlos werden, sei dies oft aus Flucht vor Gewalterfahrungen. Konkrete Zahlen gebe es allerdings nicht, betont die BAGW, die meisten Erkenntnisse sind Erfahrungswerte aus der Arbeit.

VON CAROLIN KÜTER

Warme Betten, gemütliche Aufenthaltsräume, ein sauberes Bad: In der Bornemannstraße im Wedding befinden sich gleich zwei Zufluchtsorte für obdachlose Frauen. In der gesamten Stadt allerdings müsste es viel mehr Angebote für Frauen geben, die auf der Straße leben, findet Marion Fersch. Sie leitet eine der beiden Einrichtungen: das „FrauenbeDacht“.

Die Betreuung obdachloser Frauen ist schwierig, berichtet Fersch, denn es gebe kaum adäquate Unterbringungsmöglichkeiten. Fast alle Notunterkünfte in der Stadt sind für Männer und Frauen geöffnet und werden zu 90 Prozent von Männern besucht. Frauen, die durch Männer missbraucht wurden oder Gewalt erfahren haben, suchten sich hier kaum ein Bett, so Fersch – lieber blieben sie auf der Straße. Und Hilfesuchende, für die zum Beispiel eine therapeutische Wohngemeinschaft das Richtige wäre, müssten sich vorher einer sozialpsychiatrischen Begutachtung unterziehen. Das ist eine Hemmschwelle, die oft nicht von allein überwunden werde.

Deswegen soll das Wohnheim in der Bornemannstraße als Schnittstelle zwischen Notunterkünften und betreuten Wohnheimen funktionieren. Hier können die Frauen für einen längeren Zeitraum leben, sie werden von drei Sozialarbeiterinnen, Fersch und einer Psychologin betreut. Die Frauen müssen vorher zwar zur sozialen Wohnhilfe ihres Bezirks, doch ein Gutachten über ihre psychische Verfassung benötigen sie nicht.

Wohnen können obdachlose Frauen auch gegenüber dem FrauenbeDacht. „Evas Haltestelle“ ist eine Tagesstätte für obdachlose Frauen, die im Winter auch nachts geöffnet ist. Neun Betten stehen in einem Schlafraum, getrennte Zimmer gibt es nicht. Elisabeth Wistädt findet trotzdem, dass das „Luxus pur“ ist. Die burschikose Frau zeigt auf den gemütlich eingerichteten Aufenthaltsraum mit zwei großen Esstischen, Stühlen und Blumen auf dem Tisch. Das sei der Grund, warum sie hier und nicht in einer anderen Unterkunft übernachte: Dort schliefen 20 bis 30 Frauen in einem Raum.

Verwirrende Geschichte

Seit einer Woche verbringe sie die Nächte in der Unterkunft, „aber nur, weil ich erkältet bin“. Wenn sie gesund ist, schlafe sie auch im Winter lieber draußen. In ausschweifenden Sätzen berichtet sie, dass sie früher BWL studiert und sich Anfang der 90er für 200.000 Euro einen Reiterhof gekauft habe. Doch Unbekannte hätten Anschläge auf ihre Pferde verübt. Auf der Suche nach den Schuldigen sei sie durch halb Europa gereist und habe 70.000 Euro vertelefoniert, berichtet sie mit fast wütender Stimme. Die Hände umgreifen die Teetasse vor ihr. Ab und zu zieht sie die Nase hoch.

Der Hof stehe heute leer, sagt die 50-Jährige, dahin zurück will sie nicht. „Die Leute, die die Anschläge verübt haben, sind doch wahrscheinlich immer noch da“, gibt sie als Grund an. Sie schreibe tagsüber in Bibliotheken an einem Buch über die mysteriösen Vorfälle auf ihrem Hof. Eine Rente und damit eine Wohnung habe das Jobcenter ihr zwar angeboten, aber dazu hätte sie erst noch für ein Gutachten zum Psychiater gemusst. „Die wollten mich zwangsverrenten, aber ich bin doch in Arbeit“, meint sie und schüttelt den Kopf.

„Oft ist die Obdachlosigkeit nur eine Folge von vielen Verfehlungen“, beschreibt Sozialarbeiterin Claudia Peiter die Situation der Frauen, die sie in Evas Haltestelle zusammen mit 20 ehrenamtlichen Helferinnen täglich betreut und berät. Ursachen sind Missbrauchs- und Gewalterfahrungen im Elternhaus oder Beziehungen, Mietschulden, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder schlicht Überforderung. „Alles erfüllen müssen: Mann befriedigen, Job erledigen, Kinder versorgen“, da ist in Extremfällen auch für Akademikerinnen der letzte Ausweg die Flucht, erklärt Peiters Kollegin Erika Ihrlich.

Evas Haltestelle ist ein „niedrigschwelliges Angebot“, an die Hilfe sind keine Auflagen gebunden. Die Frauen sollen hier stabilisiert werden, sodass sie überhaupt wieder Hilfe annehmen. „Das Halten des Status quo ist schon ein Erfolg“, meint Peiter. Seit 1997 existiert die Einrichtung, rund 320 Frauen nehmen das Angebot jährlich in Anspruch, täglich hat die Tagesstätte einen Durchlauf von 25 bis 30 Frauen, so die Sozialarbeiterinnen. Finanziert wird die vom Sozialdienst katholischer Frauen getragene Einrichtung aus Eigenmitteln und Spenden.

„Oft ist Obdachlosigkeit nur eine Folge von vielen Verfehlungen“

SOZIALARBEITERIN CLAUDIA PEITER

Eine „schwierige Biografie“ und „mangelnde Ressourcen“ durch fehlende soziale Kontakte seien typisch für das Leben obdachloser Frauen, berichtet Britta Köppen. Sie ist die Psychologin von FrauenbeDacht. Durch die sozialen Kontakte und das Mindestmaß an Selbstorganisation, das die Frauen in Tagesstätten und Wohnheimen erfahren, sollen die oft traumatisierten Frauen wieder an einen regelmäßigen Alltag herangeführt werden.

Luft holen

„Luft holen und ankommen“, lautet die Devise, sagt Fersch. Gelinge es dann, auf die Frauen zuzugehen, versuchen sie und ihre Kolleginnen diese an intensiver betreute Einrichtungen wie therapeutische Wohngemeinschaften, Heime oder betreutes Einzelwohnen zu vermitteln. Für viele Frauen bleibe auch aufgrund mangelnder niedrigschwelliger Angebote nur die Straße oder die Flucht in die verdeckte Wohnungslosigkeit, berichten übereinstimmend die Sozialpädagoginnen in Evas Haltestelle und dem FrauenbeDacht. In der verdeckten Wohnungslosigkeit lebten viele bei oft männlichen Bekannten und oft gegen sexuelle Gegenleistungen.

Zu den verdeckt wohnungslos lebenden Frauen zählte auch Brigitte Baum – bevor sie sich entschloss, nicht mehr bei einem Bekannten zu wohnen. Nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte, war sie zunächst bei ihm untergekommen, doch dahin will sie nicht zurück. „Das hat aber nichts mit ihm zu tun“, wehrt die schmale grauhaarige Frau Fragen ab. Ihren richtigen Namen will sie nicht verraten.

Wie Elisabeth Wistädt übernachtet sie in Evas Haltestelle. Die Winterjacke und ihr in zwei Plastiktüten gepacktes Hab und Gut trägt sie immer bei sich, auch wenn sie in der Tagesstätte nur den Raum wechselt. Aus ihrer eigenen Wohnung musste Baum ausziehen, weil sie die steigende Miete nicht mehr bezahlen konnte, erklärt sie zögernd. Die Wohnungsprobleme habe sie verdrängt. „Ich habe Krebs“, sagt sie zur Erklärung, ihre Stimme bricht fast weg. In ihrem Körper würden zwei große Tumoren wuchern, zum Arzt traue sie sich nicht mehr. „Bei der Strahlenbehandlung habe ich Panik bekommen, dann haben sie mich beim Arzt rausgeschmissen“, erzählt sie. Bei einer Strahlenbehandlung müssen Patientinnen wie Baum minutenlang bewegungslos liegen bleiben.

Wie zum Beweis dafür, dass sie wirklich krank ist, zieht die mit verschränkten Armen und Beinen auf einem Stuhl kauernde Frau plötzlich ihren Pulli hoch. Auf ihren mageren Bauch ist eine Markierung gezeichnet, die aussieht wie ein Fadenkreuz und dafür sorgt, dass der Tumor punktgenau bestrahlt werden kann. „Da wollten sie mich bestrahlen.“ Sie zeigt auf das grünliche Zeichen und sinkt wieder in sich zusammen.

Der Wohnungsverlust habe auch mit der Krankheit zu tun, sagt sie. Denn dadurch war sie nicht in der Lage, sich eine günstigere Wohnung zu suchen. Die Wohnungsschwierigkeiten aber habe sie wegen der Krankheit verdrängt. Es wirkt, als würde sie ihre Unfähigkeit, an ihrer damaligen Situation etwas zu ändern, im Nachhinein nicht mehr verstehen. Die Hände hat sie um den Körper geschlungen und wiegt sich leicht nach vorne.

Das Wohnheim ist Schnittstelle zwischen Notunterkünften und betreutem Wohnen

In eine eigene Wohnung will sie nicht zurück, bekräftigt sie. Ihr Vermieter hätte sie damals am Telefon genötigt auszuziehen. Jetzt habe sie vor dem Alleinsein Angst. Lieber übernachte sie in Notunterkünften – auf der Straße „war ich eine Nacht in einem Bushäuschen, aber das war mir zu kalt“, sagt sie.

Die Zweiteilung des Angebots aus niedrigschwelligen Einrichtungen wie Tagesstätten und Notunterkünften einerseits und andererseits höherschwelligen Angeboten wie betreutem Wohnen oder Suchttherapie klingt laut Britta Köppen zwar theoretisch „nach einem guten Plan“, in der Realität jedoch sei das System „bei weitem nicht perfekt“, so die Psychologin. Lücken gebe es ihrer Meinung nach vor allem in der Feinabstimmung.

Denn das Land Berlin ist zwar gesetzlich verpflichtet, Obdachlose, die Bedarf anmelden, in Wohnheimen unterzubringen, in vielen Fällen scheitere die adäquate Unterbringung obdachloser Frauen jedoch schon an der Vermittlung. Köppen erklärt auch, warum: Für traumatisierte Frauen ist in vielen Fällen die Hemmschwelle groß, in einer Beamtenstube von traumatischen Krankheits- oder Missbrauchserfahrungen zu erzählen. Das liege auch daran, dass viele Frauen gar nicht einsehen, dass sie krank oder psychisch verwirrt sind und deswegen den Gang zur sozialen Wohnhilfe nicht machen. Wer doch so weit kommt, wird laut der Psychologin von der Wohnungshilfe an den nächsten freien Platz verwiesen. Dieser ist im Idealfall in einer frauenspezifischen Einrichtung wie dem Wohnheim. Das ist jedoch nicht garantiert, bemängelt Marion Fersch.

Bisher ist die Berliner Obdachlosenhilfe zu wenig darauf eingestellt, die niedrigschwelligen mit den höherschwelligen Unterbringungsmöglichkeiten zu verknüpfen und hier eine Kooperation zu ermöglichen, meinen sowohl Köppen als auch Fersch. „Es macht einfach so viel Sinn, Synergien zu schließen“, sagt Köppen und schüttelt den Kopf, als würde sie nicht verstehen, warum diese Vernetzung bisher kaum besteht.