Abschied von Königin Mary-Lou

Er war ein Modell für Künstler, Go-go-Tänzer bei Die Tödliche Doris und Namensgeber des „Kumpelnests 3000“. Jetzt ist der Kanadier David Steeves mit 47 Jahren gestorben

Eigentlich habe er, Reinhard, nur eine Todesanzeige aufgeben wollen. Auf die Rückseite eines Fotos geschrieben, hatte ihm David erst kürzlich aus Kanada einen Gruß gesandt, ein paar freundliche, schöne Sätze, sozusagen „mitten aus dem Leben“. Doch die Siegessäule wollte den kurzen Brief als Todesanzeige nicht drucken, zu unkonventionell. Vor allem bestand man dort unbedingt auf der Angabe eines Geburtsjahres – eine Todesanzeige darf neben Werbung für XXL-Dildos und heißem Gay-Telefonsex eben nicht zu sehr herausfallen.

Beim Tod werden alle schrecklich seriös. Sicher hätte sich David Steeves, übrigens Jahrgang 1959, über die Ablehnung gewundert. In den frühen 80er-Jahren kam er aus Kanada via Key West nach Deutschland. Im morbiden Westberlin war er der schönste Junge aus Übersee. Er stand Modell für den kanadischen Maler Michael Morris, strippte mit Chris Dreier in der Kreuzberger Oranienbar, performte im Frontkino der Waldemarstraße und verteilte Häppchen, während die Tödliche Doris auf der documenta 8 in Kassel spielte. Er war auch der Namensgeber der 1987 eröffneten Bar „Kumpelnest 3000“. Zuvor hatte er zwei Männer gesehen, die eingehakt und betrunken aus einer Spielhölle in Neukölln schwankten: „Das muss wohl ein Kumpelnest sein!“, war Steeves’ trockener Kommentar. Das saß. Mit seinem damaligen Freund Peter gründete er später das Purgatory in St. Pauli.

Es war 1984, als Steeves mit Die Tödliche Doris für ein Konzert nach Budapest reiste, via Prag. Ägypter hatten für den Transit über hundert D-Mark zu zahlen, westdeutsche Reisende nur zwanzig – je ärmer das Land, desto teurer das Visum. Kanada fehlte auf der Liste. Der Konsulatsbeamte suchte in Unterlagen, telefonierte, ohne Erfolg. Dann schaute er ihn ernst an, seine dunklen Haare, seine braunen Augen und nannte eine Summe. „Er hat einfach den Visapreis für USA und Türkei zusammengerechnet und durch zwei geteilt!“, stellte David amüsiert fest.

Im vollbesetzten Petőfi Csarnok tanzte er vor tausend Zuschauern, im knappen Fransenslip. Hübsch und sexy war das anzusehen, wie auch seine Tätowierungen, darunter die Königin Mary-Lou auf der Brust, sein Alter Ego. Anschließend, beim Pressetermin offenbarte sich ein ungarischer Journalist: Der Go-go-Tänzer hätte ihn total aufgewühlt. So etwas hätte es hier noch nie gegeben. Es existiere in ganz Ungarn nicht einmal eine Schwulenkneipe, klagte er. Ja, aber da wäre doch diese Bar in der Rippl-Ronai oder so, murmelte der Veranstalter Csaba Hasnocy verlegen. Eine lange Diskussion begann.

Überrascht hat mich David zuletzt mit einem völlig unerwarteten Besuch in Island: „So sieht es hier also aus“, meinte er. Das Audiotape von 1981, auf dem er den deutsch-englischen Text zu „Die Über-Doris“ spricht, wurde vor drei Jahren von Vinyl On Demand als LP veröffentlicht – mit Davids Porträt auf dem Cover. Vielleicht hat die Siegessäule ja doch Recht: Eine Todesanzeige passt überhaupt nicht zu David Steeves. WOLFGANG MÜLLER