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Lekker Voetbal

HOLLAND Trainer Louis van Gaal steht symbolisch für den Erfolg der Niederländer bei dieser WM: Man muss lernfähig sein und flexibel. Dennoch ist die Grenze zwischen Genialität und Vercoachen hauchdünn

VON PETER UNFRIED

Ein beliebtes Urteil über den niederländischen Fußballnationaltrainer Louis van Gaal lautet, dass man ihn „blöd“ findet. Da es sich um persönliche Gefühle oder Ressentiments handelt, ist das nicht zu widerlegen. Dass er ein eigener Charakter ist, dafür gibt es die entsprechenden Geschichten. Etwa jene, dass er sich von seinen Töchtern siezen lasse.

Van Gaal, 62, kultiviert auf jeden Fall keine Wischiwaschi-Oberfläche, ist vielmehr ein Mensch, an dem sich andere reiben können. Seine Potenz kleidet er auch erst gar nicht in smoothe Selbstironie, um sie gebrochen und sozialverträglicher zu machen. Er „polarisiert“, was ja auch bedeutet, dass er Qualitäten hat, auf die andere neidisch sind, was sie versuchen, in Abwertungen ad hominem zu kompensieren. In Deutschland kommt erschwerend seine faktisch extrem erfolgreiche Arbeit bei Bayern München hinzu. Genau wie bei Jürgen Klinsmann, seinem Vorgänger beim FC Bayern, hat der mittlerweile wegen Steuerbetrugs inhaftierte damalige Bayern-Chef Uli Hoeneß sich durch strategisches Nachreden redlich bemüht, den Ruf van Gaals gründlich zu ruinieren.

Aber auch in den Niederlanden ist er die meiste Zeit nicht everybody’s darling. Die Abrechnungen waren fünf Minuten vor Ende des Achtelfinales am Sonntag bereits geschrieben. Titel: Der Mann, der Hollands Nationalstil des totaalvoetbal verraten hat für den schnöden resultaat gericht voetballen, also Ergebnisfußball – und kein Ergebnis bekommt. Tja. Nach dem 2:1 über Mexiko ist van Gaal der Mann, der die Niederlande zum ersten Weltmeistertitel führt. Zumindest bis zum Beweis des Gegenteils.

Multioptionalität – das ist es

Das wunderbare Comeback in den letzten Spielminuten mit den Toren der Recken Sneijder und Huntelaar wird bei entsprechendem Turnierverlauf zum Heldenepos werden, das vom Charakter und Siegeswillen des niederländischen Teams erzählt. Zunächst einmal erzählt es sehr viel über dieses WM-Turnier. Erstens, dass man den Zufallsfaktor auf keinen Fall unterschätzen darf. Holland hatte einfach Glück. Zweitens, dass nicht das System sich durchsetzt, weder Ballbesitz noch Destruktivität, sondern Multioptionalität und Flexibilität – vor allem bei atemberaubenden Wetterbedingungen. Man kann aus dem kühlen Wohnzimmer heraus bequem den Vorwurf erheben, die Niederlande hätten eine Stunde bräsig gespielt. Man kann aber nach dem Turnierverlauf auch anerkennen, dass es nun mal van Gaals neue Strategie ist, lange Zeit vorsichtig zu agieren, um dann mit Personal- und Systemwechsel einen müde gewordenen Gegner zu überraschen.

Van Gaals totale Verteidigung war nach dem Rückstand obsolet, also schaute er in sein Matchplanbuch und wechselte dann ins klassische 4-3-3. Das war allerdings nicht genial, sondern zwingend. Das heißt aber nicht, dass es besser sein muss, von Anfang an so zu agieren.

Genau weiß man’s nicht, aber die angemessene Kritik an van Gaal könnte lauten, dass er Mexiko überschätzt hat und zu kraftsparend balluninteressiert agieren ließ. Oder dass er zwar die richtige Idee hatte, nämlich die Fünferkette zur Verdichtung im zentralen Mittelfeld zu nutzen, aber das Team die Balance nicht hinbekam, weshalb van Persie und Robben nicht in Stellung gebracht wurden. Das Gegentor brachte ihn unter Zugzwang.

Kein goldener Jahrgang

Wenn das Spiel eines gezeigt hat, dann – in der Nachfolge des deutschen EM-Halbfinales 2012 –, wie nah genialer Matchplan und katastrophales Vercoachen sind.

Grundsätzlich darf man nicht vergessen, dass das niederländische Team individuell betrachtet längst nicht so gut ist wie bestimmte Vorgängerversionen. Das ist keiner der diversen goldenen Jahrgänge, die es schon gab. Aber er enthält einen Arjen Robben auf der Höhe seines Könnens und seiner Fitness. Selbst keine Fehler zu machen und diesen Robben möglichst ideal zu positionieren, das sind van Gaals primäre Ziele. Und in einem 4-3-3 kann er das nicht optimal, da sind Robbens Räume in der Regel von drei bis vier Gegenspielern zugestellt, wie man auch gegen Mexiko sah. Aber dann geht er in der vorletzten Minute einmal außen vorbei – und holt den Elfer. Und Klaas-Jan Huntelaar schießt ihn rein.

Trotzdem: Der Schalker ist und bleibt das breekijzer, das Brecheisen für den Notfall. Mit dem Spielertyp Strafraumstürmer in der Startformation wird man nicht Weltmeister, das weiß van Gaal – im Gegensatz zu Brasilien. Und mit ihrem gepflegten 4-3-3 holen die Niederlande auch nicht den Titel. Wer einem Nationalstil treu bleibt, hat schon verloren. Wer aus einem Guss spielen will, muss in der Regel abreisen. Das gilt auch Samstag im Viertelfinale gegen Costa Rica.

Selbstverständlich geht es beim Fußball um die ästhetische Begründung des Sieges. Aber wer verlangt, die Niederlande müssten mit diesem Team und bei diesem Wetter 90 Minuten „schön“ spielen, ist ein hoffnungsloser Realitätsverweigerer. Oder Johan Cruyff. Im Übrigen agieren die Niederlande längst nicht so zynisch wie Bert van Marwijks Vizeweltmeister von 2010. Sie sind überhaupt nicht zynisch und haben dieser WM ästhetische Höhepunkte gegeben, man denke an Sneijders Volley gegen Mexiko oder an van Persies Kopfballtor gegen Spanien. Und Robbens Läufe in der Vorrunde waren die maximale Synthese zwischen Athletik und Kunst.

Die Hauptkritik an van Gaal war ja übrigens stets, dass er fachlich an einem zu strikten Positionsspiel festhalte und damit von der Fußballgegenwart überholt worden sei und charakterlich zu starrköpfig sei, um das einzusehen. Dabei hatte er das Spiel und sich selbst bereits am Ende seiner Zeit beim FC Bayern weiterentwickelt. Die WM beweist das endgültig. Zu allem anderen hat er im Soft-Skill-Bereich auch noch das totale mens principe eingeführt, also das totale Menschprinzip. Totaler Mensch kommt vor totalem Fußball. Darüber haben sie viel gelästert in den Niederlanden.

Aber es zeigt: Der Mann ist total lernfähig.

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