Die Heimchen am Herd

VON MIRIAM BUNJES

Wieder so ein Tag, an dem Sylvie Lohmann nicht arbeiten konnte. Ein normaler Tag, der achte in diesem Monat. Als sie morgens ihren Rechner hochfährt, zieht ihr Einjähriger den Stecker. Als sie es mittags nochmal versucht, kriegt ihre Zweijährige einen Schreianfall. „Maja will nicht alleine spielen“, teilt sie ihrer Mutter mit. „Ich muss mal eben am Computer...“ hilft da nur kurz. Alle 20 Minuten ist irgendetwas, der Tee fällt um, die Schachtel geht nicht auf, Maja muss mal. Alternative Reisen durch Tansania soll Sylvie vermarkten. Sie ist Werbegrafikerin, 31 Jahre alt, seit vier Jahren selbstständig, das Büro neben dem Kinderzimmer in ihrer Dortmunder Wohnung. Das Reiseprojekt ist aufwändig, es gibt nur schlecht geschriebenen Rohtext, kaum Fotos, die Projektleiter sind selten erreichbar. In zwei Monaten soll alles fertig sein. Zur Zeit heißt das: Arbeiten bis weit nach Mitternacht. Dann: Aufstehen um sechs mit Elias. Ab halb acht spielen mit Maja, um zwölf Uhr Mittagessen machen und dann hoffen, dass wenigstens ein Kind einen Mittagschlaf macht und es heute vielleicht vor Mitternacht klappt mit ihrem eigenen Schlaf. „Ich kann nicht mehr“, sagt Sylvie. „Wenn das Reiseprojekt vom Tisch ist, nehme ich erst mal nichts mehr an.“

Dann macht sie das, was sie nie gewollt hat: Sie arbeitet nicht, weil sie Kinder hat. „Sie müssen doch nicht arbeiten“, hat ihre Sachbearbeiterin im Dortmunder Jugendamt letzte Woche zu ihr gesagt. Jede Woche geht sie hier vorbei, dazu ruft sie mindestens vier Mal in der Woche an – wie hunderte Dortmunder Mütter, die einen Ganztagsplatz in einer städtischen Kindertagesstätte haben wollen oder – noch exklusiver – Betreuung für Kinder unter drei Jahren. „Gucken Sie doch mal, was Ihr Mann verdient, da sind erstmal andere dran“, sagte die Kitaplatz-Verteilerin. Also: Kein Kitaplatz. Wenn Maja drei ist, kriegt sie einen Kindergartenplatz, das ist ihr gesetzlich verankertes Recht. Alles vorher ist Luxus – auf jeden Fall in Nordrhein-Westfalen.

Für weniger als drei Prozent aller Kinder unter drei Jahren gibt es im größten Bundesland Betreuungsangebote. Heißt: Jedes fünfzigste Kind bekommt einen Platz und Frauen wie Sylvie, nicht alleinerziehend und nicht, wie es im Amtsdeutsch heißt, „wirtschaftlich bedürftig“, stehen weit hinten auf den Wartelisten. Und die sind lang, in jeder Stadt: Für jedes zweite Kind wird ein Platz gewünscht, hat das Deutsche Jugendinstitut bei einer Elternbefragung erhoben.

Oder eher: Die Mütter warten auf einen Platz. Denn die Väter arbeiten, sind die Ernährer der Familie. Wie schon vor hundert Jahren, trotz Frauenbewegung und vieler guter Worte. Sylvies Mann verdient tatsächlich gut, er hat Lehraufträge an mehreren Forschungsinstituten in Deutschland, reist als Forscher durch die ganze Welt.

Trotz Frauenbewegung: Die Väter bleiben die Ernährer

Sylvie hat vor Maja tatsächlich schlechter verdient als er, der seit zwölf Jahren im Job ist und als Hausmann, wenn auch nur als vorübergehender, einen „riesigen beruflichen Rückschritt gemacht hätte“, betont auch seine Frau. Wenn Sylvie jetzt ein Jahr aussteigt, muss sie auch wieder von vorne anfangen, der finanzielle Schritt ist aber kleiner. Ist er auch richtig?

In Deutschland lautet die Antwort Ja. Und sie wird von Männern und von Frauen gegeben. Ein Drittel aller Männer halten Kindererziehung für Frauensache. Etwas mehr als die Hälfte „findet es selbstverständlich, dass die Partner sich Erziehung und Haushalt teilen“, ermittelte das Allensbach-Institut im vergangenen Jahr. Teilen tun trotzdem viel weniger. Weil Frauen meistens vorher schlechter verdient haben. Und: Weil auch die Frauen sich die Rolle der Supermutter angezogen haben. „Die traditionelle Rollenaufteilung sitzt tief und dazu gibt es in Westdeutschland die Vorstellung, dass kleine Kinder eigentlich nur von ihren Eltern großgezogen werden können“, sagt die Bielefelder Väterforscherin Wiebke Kolbe. „Und weil diese Vorstellung schon länger nicht mehr in die Zeit passt, sind die Geburtenraten auch so niedrig.“

Schreiende Kleinkinder trösten, stinkende Windeln wechseln, Möhrenbrei kochen – das können Männer und Frauen gleich gut. Theoretisch. „Gerade bei Kindern unter drei sprechen die Frauen ihren Männer aber oft die Kompetenz ab“, sagt Kolbe. „Und finden andere Argumente, warum die Rollenverteilung bleibt, wie sie ist.“

Ohne Arbeitsvertrag kein Kitaplatz, ohne Kitaplatz kein Arbeitsvertrag

Argumente, die vor allem mit Geld und Arbeitsstellen zu tun haben. Wie bei Linda Reusen. Ihr Arbeitsvertrag als Einzelhandelskauffrau war auf ein Jahr befristet – und ist entsprechend einfach weg. Sie bewirbt sich seit ihre Tochter ein halbes Jahr alt ist, ihr Freund arbeitet jeden Tag von acht bist acht, verdient so viel, dass auch sie nicht „wirtschaftlich bedürftig“ ist. Ohne Arbeitsvertrag, keinen Kitaplatz, ohne Kitaplatz, keine Einstellung. Hartz IV-Empfängerinnen haben es etwas besser: Sind sie arbeitssuchend, und das sollen sie zwei Jahre nach der Geburt sein, werden sie vom Arbeitsamt bei der Suche nach Betreuungsmöglichkeiten unterstützt – auf den langen Wartelisten rücken sie ein Stückchen weiter nach oben.

„In diesem System haben Frauen kaum eine Chance und Männer können sich einfach entziehen, weil sie in der Regel besser bezahlt werden als Frauen“, sagt Sybille Stöbe-Blossey vom Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Darauf reagiert auch der Arbeitsmarkt – und verfestigt seine Ungleichheiten. Die Frauen haben die Kinder, also sind Frauen mit Kinder unflexibler – eine einfache Gleichung, die leider oft stimmt. Linda ruft bei jeder Absage noch einmal an. „Es liegt daran, dass ich Mutter bin, das wird meistens auch ganz offen gesagt“, sagt die 29-Jährige aus Essen. „Die Chefs fürchten, dass ich nicht spontan die Dienste tauschen kann und zur Zeit gibt es offenbar auch genug Bewerber ohne Kind.“

Und richtig flexibel ist Linda nicht: Für 18 Stunden in der Woche wird sie in ein paar Wochen eine Tagesmutter haben, ihre Mutter wohnt in Oberhausen, würde ihre Enkeltochter auch für einen Tag betreuen. „Für Teilzeit würde es schon reichen“, sagt sie.

Ein kostenfreies Kindergartenjahr ist ihr egal. „Klar, das spart mir Geld, es ändert aber gar nichts an meiner Situation.“ In der politischen Diskussion ist dieser Vorschlag der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) beherrschend – seit im Winter tote Kevins und Justins in Kühlschränken und Leichenschauhäusern auftauchten und eine wochenlange Mediendebatte auslösten. Zehn Euro weniger Kindergeld reicht für so ein kostenfreies Jahr, rechnete auch NRWs Familienminister Armin Laschet (auch CDU) aus. Und dann, so die Logik des Vorschlags, schicken alle, wirklich alle, Eltern ihre Kinder in den Kindergarten. Im Moment tun das 99 Prozent. Und obwohl die wichtigsten Familienpolitiker zur Zeit Konservative sind, interessieren die unspektakulären Mittelschichtskinder und ihre Durchschnittseltern viel weniger. Maja und Elias sollen auf jeden Fall in der Kindergarten, auch wenn er Geld kostet. Sylvias und Lindas Kinder gehen auch zur Vorsorgeuntersuchung beim Arzt, sie selber verschandeln keine Arbeitslosenstatistiken. Stoff für mediale Inszenierung bieten sie nicht. Sie ziehen ihre Kinder groß – in den ersten drei Jahren allein, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt.

2010 wird alles anders, verspricht die Landesregierung in NRW

Völlig falsche Prioritäten setze die Politik, findet Ute Steinke vom Verband berufstätiger Mütter in Köln. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerate aus dem Blick, es gehe nur noch um vernachlässigte Kinder. „Ein Kita-Platz ist in NRW ein Lottogewinn, es gibt immer noch zu wenige Ganztagsschulen, da stehen die Kinder um 13 Uhr ohne Mittagessen vor der Haustür.“

Bis 2010 soll es überall in Deutschland für 20 Prozent aller Unter-Dreijährigen Tagesbetreuung geben. Ein realistischer Plan, heißt es dazu aus dem nord-rhein-westfälischen Familienministerium – obwohl man dafür das Angebot verzwanzigfachen muss. „Wir setzen vor allem die Tagespflege“, sagt Ministeriumssprecherin Barbara Löcherbach. „In drei Jahren können wir deutlich mehr Familien ein Angebot machen und uns ist klar, dass danach das Angebot noch weiter ausgebaut werden muss.“

Tagesmütter – auch diesen Job machen fast ausschließlich Frauen – sollte eher eine Zusatzlösung sein, meint die Gelsenkirchener Familienforscherin Stöbe-Blossey. Eltern in NRW wollen sowieso lieber Krippenplätze, hat sie in einer Umfrage ermittelt. „Außerdem können Kinder in institutioneller Betreuung besser gefördert und dass kann auch kontrolliert werden.“

Kontrollierte Super-Kindergärten, zu denen alle möglichst früh gehen und die sie lernhungrig Richtung Schule verlassen, wünscht sich auch die NRW-Wirtschaft. Zum Schlusslicht bei den Betreuungsangeboten kürte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft das Land NRW. „Um unser Lohnniveau halten zu können, brauchen wir Spitzennachwuchs, die Grundsteine dafür werden in der Kita gelegt“, erklärt INMS-Sprecher Roland Voigt. Erkenntnisse, die seit Jahren in jeder Bildungsstudie stehen, bei denen NRW nicht selten als Negativbeispiel angeführt wird.

In die Kitas sollen die Kleinen bald auch von ihren Papas gebracht werden. Zwei Monate Elternzeit soll seit dem Jahreswechsel auch der arbeitende Partner nehmen, sonst gibt es weniger Elterngeld. „Das wird viel ändern“, glaubt Väterforscherin Kolbe. „Zwei Monate sind kurz, aber sie geben eine Vorstellung davon, was es heißen kann, drei Jahre lang Beruf mit Kind zu tauschen.“

Sylvie baut heute Holztürme. Maja auch. Alles, was sie aufbauen, haut Elias wieder um und lacht begeistert. „Klar macht das Spaß zu sehen, wie sie groß werden“, sagt Sylvie. „Die ersten Wörter zu hören und so.“ In Krabbelgruppen und Spielkreisen hat sie oft das Gefühl, die einzige zu sein, die sich noch mehr wünscht. „Alle Frauen wirken so erfüllt“, sagt sie. „Und fragen mich, warum ich denn so früh nicht mehr für die Kinder da sein will. Als wären Arbeit und Familie eben unvereinbar.“ Sylvies Mann kommt heute schon um 17 Uhr. Elf Stunden nach Tagesbeginn fährt Sylvie ihren Rechner erfolgreich hoch und freut sich dabei schon auf den Schlaf vor Mitternacht.