„Die Kinder werden massiv überfordert“

Mit dem schnelleren Abitur macht Sitzen bleiben keinen Sinn mehr, sagt Lehrer-Gewerkschafter Norbert Becker

taz: Herr Becker, durch das Schulgesetz soll ja auch erreicht werden, dass weniger Schüler sitzenbleiben. Was ist an diesem Thema brisant?

Norbert Becker: Dass das Sitzenbleiben problematisch ist, wissen wir spätestens seit der Pisa-Studie. Dort wurde festgestellt, dass der Lernzuwachs in dem Jahr, das wiederholt wird, ganz gering ist. Außerdem haben die Wiederholer aufgrund ihres Altersvorsprungs und ihrer oft mit dem Versagen einher gehenden negativen Einstellung zur Schule eher einen schlechten Einfluss auf das Lernklima in der neuen Klasse.

Was kann man denn alternativ mit lernschwachen Schülern machen?

Wir können sie nicht einfach mitschleppen. Das wäre auch der falsche Weg. Wer will, dass weniger Schüler sitzen bleiben, muss den Kindern Hilfestellung geben. Sie müssen das nachholen können, was ihnen fehlt. Dazu brauchen die Schulen aber Konzepte und Personal.

Die Landesregierung stellt zusätzliche Förderkapazitäten dazu in Aussicht.

Ja, fünf Stunden. Das ist definitiv zu wenig. Denn diese Kinder müssen in Kleingruppen gefördert werden. Eine Verstärkung der Stunden mit dem Ziel, alle zu fördern, ist gut gemeint, aber kontraproduktiv.

Welche Möglichkeiten hat ein Schüler, der im Sommer in der 7. Klasse sitzenbleibt?

Das ist ein ganz besonderes Problem. Zwar erleidet er keinen Zeitverlust, weil er praktisch gleichzeitig die Schule abschließt wie seine ehemaligen Klassenkameraden. Aber es dürfte für ihn eine besondere Erschwernis bedeuten, weil er in eine Klasse kommt, die es gewohnt ist, in höherem Lerntempo zu arbeiten. Je weiter sich die Schnittstelle von der Umstellung von 13 auf 12 Schuljahre nach oben verschiebt, um so problematischer dürfte es werden, Schritt zu halten. Da müsste sich jede Schule überlegen, in wie weit das Sitzenbleiben noch Sinn macht.

Haben Sie sich an Ihrer Schule schon Gedanken darüber gemacht?

Nein, bisher noch nicht.

Wo sehen Sie denn noch weitere Klippen?

Ich habe große Sorge, dass in den Klassen 7 bis 9 die Stundentafel so umfangreich wird, dass auf die Kinder eine massive Belastung, wenn nicht sogar Überforderung zukommt. Sie müssen sich in den Klassen 5 bis 9 verdichtet das gleiche Pensum aneignen wie früher in den Klassen 5 bis 10. Das bedeutet, die Lehrer sind darauf angewiesen, dass die Kinder zu Hause mehr nacharbeiten.

Nimmt das Schulministerium Ihre Sorgen zur Kenntnis?

Wir Lehrer beklagen seit Jahren, dass im Ministerium zumeist nur darauf hin geplant wird, öffentlichen Beifall zu bekommen. Das sind manchmal keine falschen Ideen, aber über die konkrete Umsetzung wird kaum nachgedacht. Und mitten in der Umsetzung kommt wieder eine neue Idee, die die alte konterkariert. Man sollte endlich anfangen, die alte Weisheit zu berücksichtigen: Schools change slower than churches.

INTERVIEW: ANGELIKA BASDORF