Sehen, was noch nicht zu sehen ist

Stadtführungen, die Touristen die Vergangenheit der Stadt nahebringen, gibt es genug. Jetzt zeigen junge BerlinerInnen, wie die Stadt in Zukunft aussehen wird – von Wohnungen, in die man sein Auto mitnimmt, bis zur Badewasser-sauberen Spree

VON WALTRAUD SCHWAB

Trotz des stürmisch-feuchten Januarwetters, das durch Mäntel, Mützen und Handschuhe zieht, erleben fünf Stadtführerinnen zwischen 14 und 25 Jahren eine „Feuertaufe“. Ihnen wird nicht kalt, während sie ihr Publikum zum ersten Mal auf eine Tour durch das Kreuzberg von morgen führen. „Öko oder Space? Carloft oder Autofrei?“ nennen sie die Tour, die sie im letzten halben Jahr erarbeitet haben. Sie wollen zeigen, wie in Kreuzberg und im angrenzenden Neukölln nicht nur mit Vergangenheit und Gegenwart, sondern – und das ist neu – vor allem mit Zukunft umgegangen wird.

„Hallo und herzlich willkommen. Ich bin Natalie Rossow, 18 Jahre, und möchte euch heute mit auf einen Ausflug in die Zukunft nehmen“, sagt die junge Frau im Wintermantel. „Ich werde euch zeigen, was eine zukunftsfähige Stadt sein kann. Was stellt ihr euch eigentlich darunter vor?“ Die Intonation verrät, dass Natalie ihre Sätze auswendig gelernt hat. Routine kommt später.

Die jungen Leute führen vorbei an der ebenso jungen Designerszene im Neuköllner Reuterkiez. Dann geht es zum Landwehrkanal – der nicht nur Stichwortgeber für Stadtgeschichte, sondern auch für Gewässerreinhaltung ist. Von dort zieht man weiter zum umgebauten Bewag-Umspannwerk. „Innovativ daran ist: Aus alt mach neu“, erklärt die 25-jährige Miriam Reichwald, die Kunstgeschichte und Japanologie studiert. Viel wichtiger allerdings ist den StadtführerInnen das Mehrgenerationenhaus in autofreier Umgebung, das gleich nebenan entstehen soll. Anlass genug, um auf demografische Entwicklungen und Umweltproblematiken der Zukunft zu verweisen.

Von der Autofreiheit geht es vorbei an Integrationskindergärten – und damit um den gesellschaftlichen Umgang mit Migranten – zur Freiheit der Autos: An der Reichenberger Straße sind opulente „Carlofts“ geplant, bei denen man mit seinem Auto in den Lift fahren kann und es in der Wohnung gleich mitparkt. „Man weiß nicht, ob man beeindruckt oder entsetzt sein soll“, sagt einer aus dem Publikum.

Stolpersteine – und damit das Gedenken an deportierte Juden –, die Bioeisdiele, in der man auch mit der lokalen Zukunftswährung „Berliner“ bezahlen kann, der Kinderbauernhof und die Wagenburg an der Lohmühle, die ihren Strom selbst erzeugt und auf Zukunftstoiletten ihr Geschäft macht, der alte DDR-Wachturm und das Badeschiff sind weitere Stationen. An der Spree, die bis 2011 wieder so sauber sein soll, dass man nicht mehr in darin schwimmenden Becken baden muss, sondern gleich in den Fluss springen kann, endet die Tour.

Den Zukunftsgedanken in Stadtführungen einzubauen ist neu. Entstanden ist er im Verein „Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis – Fipp“. Der freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe experimentiert schon länger mit Stadtführungen, bei denen SchülerInnen der Eberhard-Klein-Schule sich Routen erarbeiten, um sie Gleichaltrigen zu zeigen, die auf Klassenfahrt nach Berlin kommen. Dahinter steckt die Idee, dass bei der Erarbeitung und Durchführung solcher Projekte „Schlüsselqualifikationen gelernt werden“, wie Renate Liebsch von Fipp e. V. erläutert. Sie lernen, sich mit ihrer Umgebung und deren Geschichte auseinanderzusetzen und sie Dritten verständlich darzustellen. Sie lernen, Fragen zuzulassen, und sie sind als Sachkundige gefordert, diese auch zu beantworten. Sie lernen, Widerspruch und Kritik nicht als persönlichen Angriff wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. „Wir wollen den Jugendlichen mit solchen Vorerfahrungen Zugang zu Berufsfeldern im Tourismus erschließen“, sagt Liebsch.

Die neue Zukunfts-Tour hat indes eine andere Vorgeschichte. Sie entstand aufgrund einer Ausschreibung der Projektagentur „Zukunftsfähiges Berlin“, die – im Rahmen der Agenda 21 und gefördert von der Klassenlotterie – Ideen nachhaltiger Entwicklung in der Stadt unterstützt. Fipp e. V. stellte einen Antrag und bekam eine Anschubfinanzierung. Für die fünf StadtführerInnen, die das Projekt ausgearbeitet haben, ist es eine Chance, nicht nur ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln und innovative Ideen zu verbreiten, sondern sich auch Berufs- und Arbeitsfelder selbstständig zu erschließen.