Einen dritten Flügel hat es nie gegeben

In Wörlitz versuchen die Grünen alles, um den Eindruck zu vermeiden, sie führten eine Debatte um Familie und Werte

WÖRLITZ taz ■ Fast sah es so aus, als würde es auf der Neujahrstagung der Grünen einen veritablen Streit geben. Ein dritter Flügel „jenseits von Fundis und Realos“ entstehe gerade. Die Entdeckung der traditionellen Kleinfamilie sei bei einigen Abgeordneten im Schwange – wow! Doch dann wurde schon in der Empfangshalle des Wörlitzer Hotels Zum Stein abgewiegelt: Alles sei nur ein Missverständnis, Kommunikationsfehler zwischen einzelnen Mitgliedern der Fraktion und einzelnen Vertretern der Presse. Die Meldung vom dritten Flügel stimme nicht. Und natürlich sei von einer Rückbesinnung auf die Vater-Mutter-Kind-Familie nie die Rede gewesen. Auslöser der Debatte über den grünen Familienbegriff war ein Diskussionspapier. Unterschrieben hatten es Fraktionschefin Renate Künast, Vize Christa Sager, die familienpolitische Sprecherin Ekin Deligöz sowie die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Künast sagte im Vorfeld des Treffens, Werte würden „in der Familie in einer Weise vermittelt, wie es keine andere Institution in dieser Gesellschaft kann“. Göring-Eckardt sieht in der Familie gar einen „Wert an sich“.

Das wollte Parteichefin Claudia Roth jedoch so nicht gelten lassen. „Es gab eine Debatte, ob Familie ein Wert an sich ist, und die klare Antwort lautet nein“, sagte Roth der taz. „Sie ist aber ein Ort, wo Werte vermittelt werden.“ Familienpolitik werde nicht das urgrüne Thema Frauenpolitik ersetzen. Der parlamentarische Geschäftsführer Beck betonte, das Spezifische am grünen Familienbegriff sei, „dass alle Formen einbezogen werden“, also auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kind und Alleinerziehende. Künast stellte am Schluss des Treffens die Sprachregelung vor: „Familie ist eine auf Dauer angelegte Verantwortungsübernahme.“

Das eigentlich Neue am grünen Familienbegriff? Für Deligöz „die Erweiterung auf die älter werdende Bevölkerung“, also nicht mehr nur die Pflege der Kinder, sondern auch der Eltern. Im Papier lautet die parteitypische Formulierung: „Uns Grüne leitet ein ganzheitliches Pflegeverständnis.“ Auch ist von der „Rushhour“ die Rede, jene Zeit zwischen 25 und 35, in der besonders Frauen Kinder bekommen und sich beruflich etablieren. Gleichzeitig verringert sich insgesamt die Zeit, in der Eltern mit Kindern zusammenleben. Wer die achtzig erreicht, verbringt ein Viertel seines Lebens mit den Kindern unter einem Dach. „Die eigentliche Herausforderung ist daher eine Lebensarbeitszeitpolitik“, so Deligöz zur taz. Pflege-Auszeiten müssten beispielsweise in den Sozialversicherungen berücksichtigt werden.

Bis zur Sommerpause wollen die Grünen konkrete Forderungen zur Familienpolitik verabschieden: Kitaplätze für Kinder ab einem Jahr sollen zunächst zum Rechtsanspruch, später auch kostenfrei werden. Die Ganztagsschule soll zur Regel werden. Bei der Steuergesetzgebung wollen die Grünen das Ehegattensplitting abschaffen. Auf diese Weise könnte der Staat 5 Milliarden Euro in die Kinderbetreuung umwidmen. Außerdem fordern die Grünen eine familienfreundlichere Hochschul- und Unternehmenspolitik.

Ganz ungeplant und unzensiert ließ sich dann bei der Besichtigung der Schlossanlage von Wörlitz erleben, was ältere Grüne vom Modell der glücklichen Familie halten. Graf und Gräfin hätten jeder für sich in einer eigenen Villa gelebt, dazwischen ein gutes Stück Garten, erzählt der Schlossführer. Eine Teilnehmerin, Mitte fünfzig, kommentierte süffisant: „Das finde ich vernünftig.“

KATHARINA KOUFEN

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