Eins mit Sternchen

RÜTLISCHULE An der einstigen Neuköllner Skandalschule bekommt der erste Abiturjahrgang heute seine Abschlusszeugnisse. Die Gemeinschaftsschule ist mittlerweile ein pädagogisches Vorzeigeprojekt

■ Vor acht Jahren schrieben die Lehrer der damaligen Rütli-Schule einen Brief an den Bezirk, in dem sie sich über die Zustände an der damaligen Hauptschule beklagten. Der Hilferuf wurde öffentlich. Darin hieß es unter anderem:

■ „Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber […] Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. […] Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. […] Die Folge ist, dass Kollegen am Rande ihrer Kräfte sind.“ (taz)

In der ersten Woche am Neuköllner Campus Rütli, die damals noch Rütli-Schule hieß, hatte Mustafa noch Zweifel, ob seine Schulwahl tatsächlich so eine gute Idee war. Dann ist Mustafa, der nach der sechsten Klasse an die Gemeinschaftsschule wechselte, geblieben: „Die Lehrer sind hier irgendwie nicht so streng, reden mit einem und machen uns vor den Prüfungen Mut.“ Jetzt ist er in der zehnten Klasse, möchte sein Fachabitur machen und sich in einer dualen Ausbildung zum Industriekaufmann ausbilden lassen.

Der Campus Rütli, wie die einstige Skandalschule heute heißt, ist mittlerweile zu einem Vorzeigeprojekt geworden, mit jahrgangsübergreifendem Lernen, einer musikpädagogischen Schwerpunktsetzung – und dem ersten Jahrgang an Abiturienten. Am heutigen Freitag bekommen 18 AbgängerInnen ihre Zeugnisse überreicht.

„Trotz aller Veränderungen sind die Schüler noch die gleichen wie vor acht Jahren“, sagt die Lehrerin Hilde Holtmanns. Damals hatten Lehrer einen Brief geschrieben, in dem stand, dass Lehrkräfte sich ohne Handy als Notrufmittel nicht mehr in die Klassen trauten und Papierkörbe durch die Klassen flögen. Auch Holtmanns, seit 30 Jahren an der ehemaligen Hauptschule im Reuterkiez, unterschrieb den Hilferuf.

„Wochenlang ist dieser Brief im Bezirk unterwegs gewesen, bis er öffentlich geworden ist“, so Holtmanns. „Wir waren damals der Meinung, dass sich die Hauptschule überlebt hat.“ Die Schulform hätte den Schülern einfach keine Perspektiven geboten und sie dadurch frustriert. „Die Personalnot war damals außerdem sehr groß. Es hatte keiner der Lehrer auch nur einen Rest Energie übrig.“

Nach dem Brandbrief und der ungeheuren öffentlichen Aufmerksamkeit, die darauf folgte, reagierten Bezirk und Senat schnell: Es wurde eine neue Schulleitung eingesetzt. Schulpädagogen und zusätzliches Lehrpersonal kamen an die Schule. Aus der Hauptschule wurde eine Gemeinschaftsschule, mit der Möglichkeit, auch den Mittleren Schulabschluss und das Abitur zu machen. Der Senat investierte 27 Millionen Euro in den Campus Rütli, zu dem nun auch eine angeschlossene Kita, eine kooperierende Grundschule und ein Elterncafé gehören.

Dass ihre Schule einen Vorteil gegenüber anderen hat, weil sie nach dem Skandal 2006 finanziell gefördert wurde, hört Schulleiterin Cordula Heckmann nicht gern. Die Finanzspritze sei wichtig gewesen, aber nicht der einzige Faktor: „Die Lehrer haben damals Ja zu mehr Arbeit gesagt und sich mit ihren Ideen gehört gefühlt“, so die Schulleiterin.

2011 haben dann 40 Schüler zum ersten Mal auf dem Campus Rütli begonnen, sich auf das Abitur vorzubereiten – dass es am Ende nur 18 von ihnen geschafft haben, ist „verhältnismäßig sicher eine kleine Zahl“, so Lehrer Giorgio Paschatta, der die Oberstufe damals mit aufbaute, „aber es ist auch der erste Jahrgang. Die meisten hatten, als sie an diese Schule kamen, das Abitur noch nicht mal vor Augen.“

Zudem wären in der 12. Klasse auch einige SchülerInnen abgegangen: ganz einfach, weil sie dann eben in die Berufswelt eingestiegen seien. Paschatta ist dennoch zuversichtlich, dass die Zahl der Abiturienten in den kommenden Jahrgängen steigen wird.

Dazu mögen auch die Veränderungen in der nahen Umgebung beitragen. Der Reuterkiez ist beliebt wie nie, die Mietpreise steigen rasant. Spätis verkaufen Rennräder, in den Bars sind an Wochenenden keine Tische mehr frei und Spanisch ist auf der Straße genauso oft wie Türkisch zu hören. Vordergründig deutet in der benachbarten, mit Bars und Cafés gespickten Weserstraße nichts auf einen Kiez hin, der gern als sogenannter sozialer Brennpunkt bezeichnet wird.

Dass sich die Sozialstrukturen im Kiez langsam änderten, mache sich am Campus Rütli bislang aber erst in der Grundstufe bemerkbar, so Holtmanns. „An den Schulkonferenzen merkt man schon, dass es jetzt auch bildungsbewusstere Eltern sind, die ihre Kinder auf die Schule schicken“, sagt die Lehrerin.

Das Wichtigste für die Lehrer am Campus Rütli sagt Schulleiterin Heckmann, sei es, kein Kind auf dem Weg zum Abschluss aus den Augen zu verlieren. Dass das gelingen kann, bestätigt Mustafa, der mit Abschluss der 10. Klasse nun zumindest seinen Mittleren Schulabschluss schon mal in der Tasche hat. ANNA BORDEL