Buchtipp

Ferne Utopien

Gereist wird aus unterschiedlichen Beweggründen. Die zwei gegensätzlichsten sind sicher die Lustreise und die Reise auf der Suche nach einem besseren Leben oder dem Lebensunterhalt. Doch beide Beweggründe speisen sich letztlich aus Paradiesträumen. Einem Paradies beispielsweise in Ozeanien. „Kokosmilch und Ananassaft rinnen in hungrige, durstende, aufbegehrende Mägen. Blüten sind an Nasenlöcher gedrückt – tiefes Luftholen. Einatmen, nicht wieder rauslassen – das Frische, das Lebende in aller Gegenwart halten. Weißen Sand zwischen Zehenspitzen rieseln lassen und Palmenzweige sich wiegen sehen im Wind vor dem Himmelsblau“, so wird das Paradiesfeeling im Roman „Der König von Ozeanien“ beschrieben.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollten verarmte französische Bauern und reiche Spekulanten in Ozeanien eine bessere Welt weit weg vom dekadenten Europa aufbauen. Der Marquis de Ray, bretonischer Adeliger und Abenteurer, propagiert die Erschließung einer Südseeinsel als egalitäre Kolonie: La Nouvelle France. Hunderte folgen ihm, legen ihre Geld in diesem Projekt an und kommen durch Hunger, Erschöpfung und Malaria um. Das Paradies ist anderswo.

Der Roman basiert auf historischen Tatsachen, die der Wiener Schriftsteller Andreas J. Obrecht recherchiert und in eine spannende Erzählung verpackt hat. Obrecht ist Soziologe, Anthropologe und Entwicklungsconsulter, Verfasser wissenschaftlicher und literarischer Werke über fremde Kulturen und die Begegnung mit ihnen. Sei neuer Roman ist die Geschichte von Zivilisationsmüdigkeit und Naivität, Paradies und Hölle, Verrat und Betrug. Erzählt aus Sicht des tragischen Helden André Prevost. Es ist auch die Geschichte eines gigantischen Komplotts. Ein mit psychologischem Fingerspitzengefühl aufgearbeiteter Entwicklungsroman, der im Gewirr der historischen Fakten zu einem spannenden Krimi wird, stellenweise etwas langatmig. Weniger Faktentreue, dafür mehr Fiktion auf weniger Seiten hätte dem Lesefluss gutgetan. Nichtsdestotrotz ist „Der König von Ozeanien“ ein packendes Buch, auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Eroberung der Fremde. Vor allem, wenn diese unter dem Banner der menschenverachtenden europäischen Kolonialpolitik des 19 Jahrhunderts geschieht. Ein kluger historischer Wälzer.

EDITH KRESTA

Andreas J. Obrecht: „Der König von Ozeanien“. Brandes & Apsel, Frankfurt/Main 2006, 510 Seiten, 29,00 €