Späte Sühne

20 Jahre lang glaubte ihre Familie, Elisabeth G. sei 1986 eines natürliches Todes gestorben. Dann ging ein Sohn zur Polizei und erzählte davon, wie er damals die gewaltsame Tötung seiner Mutter miterlebt habe. Der Täter: ihr Ehemann, sein Vater. Der steht nun vor Gericht

Von Elke Spanner

Niemand dachte sich viel dabei, als Elisabeth G. vor zwanzig Jahren starb. Sie war schwer herz- und nierenkrank, mehrmals die Woche bei der Dialyse, und so schrieb der Arzt Herzversagen in den Totenschein. Als man sie fand, lag sie im Wohnzimmer friedlich auf dem Sofa, gemütlich mit einer Decke zugedeckt. Für eine schwerkranke Frau ein schöner Tod, wenn auch früh.

Mit der Erinnerung an dieses Bild konfrontiert, gibt Martin S. ein verächtliches Schnauben von sich. Martin S. ist der Sohn von Elisabeth G. – und das einzige ihrer vier Kinder, das all die Jahre wusste, dass nicht etwa das schwache Herz verantwortlich für den Tod der Mutter war. Es dauerte 20 Jahre, bis er im September vergangenen Jahres in Hamburg auf ein Polizeirevier ging, seinen Namen nannte und dann erzählte, dass der eigene Vater seine Mutter getötet habe. Im Streit um Geld habe er ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt, minutenlang, bis die Beine der Mutter irgendwann nicht mehr strampelten. Woher er das wisse? „Ich war dabei.“

Der Vater, Klaus-Peter G., sitzt auf der Anklagebank im Hamburger Landgericht, blickt seinen Sohn verächtlich über den Rand der metallenen Brille hinweg an und sagt „Herr S.“, wenn er vom eigenen Kind spricht: „Das mit dem Sohn hat sich erledigt.“ Klaus-Peter G. ist ein impulsiver Mann. Einer, der seine Gefühle nicht in differenzierten Worten ausdrückt, sondern in schlichten Gesten. Während sein Sohn im Zeugenstand den Todeskampf der Mutter beschreibt, schlägt sich der gelernte Schlachter immer wieder mit der flachen Hand gegen die Stirn, als müsse er über solche Lügen verzweifeln. Mehrmals scheint er sich nur in letzter Sekunde beherrschen zu können, mit der Faust kräftig auf den Tisch zu schlagen. Dann versucht er stattdessen, seinen Anwalt anzustacheln, Martin S. mit Fragen so richtig auseinanderzunehmen. Bis der eigene Anwalt ihn schließlich anfaucht: „Lassen Sie das bitte.“

Im Hause der Familie G. war immer klar, dass alle nach der Pfeife von Klaus-Peter G. zu tanzen hatten. Widersetzte sich einer dem Patriarchen, setzte es Prügel. Dazu musste nicht wirklich etwas vorgefallen sein. Oft genügte es schon, dass der Vater beim Kartenspielen verloren hatte und mit schlechter Laune nach Hause kam. Da war manchmal ein einziges Wort eines Kindes schon eines zu viel.

Detlef G. kam in diese Familie, als er fünf Jahre alt war. Er ist der Sohn der getöteten Mutter aus einer früheren Beziehung. Seine ersten Lebensjahre hat er bei der Großmutter verbracht. „Ich war sehr glücklich dort“, sagt er nun. Als seine Mutter Klaus-Peter G. heiratete, holte sie Detlef zu sich. „Das war da wie Krieg“, sagt er, und seine Stimme wird dünn, als müsse er noch heute gegen die Tränen ankämpfen. Abends, erzählt er, wurden die Kinder im Zimmer eingesperrt, damit die Eltern ungestört ausgehen konnten. Prügel waren an der Tagesordnung, „ich dachte manchmal, er würde nie mehr von mir ablassen“. Selbst als der damals kleine Junge wimmernd auf dem Boden lag, habe der Stiefvater noch zugetreten. Mehrere Knochenbrüche trug das Kind im Laufe der Jahre davon. Seine Mutter habe ihn angefleht, in der Schule zu behaupten, er sei auf dem Spielplatz gestürzt. „Sie war die Fürsprecherin meines Stiefvaters.“ Ob die Mutter auch geschlagen wurde? „Natürlich.“

Elisabeth G. hat Jahrzehnte gebraucht, sich aus dieser Ehe zu befreien. 1986, ein halbes Jahr vor ihrem Tod, zog sie in eine eigene Wohnung in Allermöhe und reichte die Scheidung ein. Im Alltag war sie ihren Mann damit los, doch endgültig zerschnitten war das Band damit nicht. Immer wieder stand Klaus-Peter G. vor ihrer Tür, um Finanzielles zu klären. „Meinem Vater ging es immer nur ums Geld“, sagt Martin S. bitter. So auch am Todestag von Elisabeth G.: Klaus-Peter G. kam am Nachmittag zu seiner Frau, um die Unterschrift unter einem Dokument zu verlangen. „Als sie mich sah, hat sie sich richtig erschrocken“, räumt der Fleischer vor Gericht ein. Es kam zum Streit, die beiden schrien sich an. Da schubste Klaus-Peter G. seine Frau, die auf dem Sofa saß, auf den Rücken, setzte sich auf ihren Brustkorb, nahm ein Kissen, ein rotes, und drückte es auf ihr Gesicht. Minutenlang, behauptet Martin S., und geschrien habe der Vater dabei immer wieder: „Verreck!“

Klaus-Peter G. selbst leugnet das nicht einmal. Er aber beschreibt alles als einen „Unglücksfall“. Nur ganz kurz, höchstens zehn Sekunden lang, habe er Elisabeth G. das Kissen ins Gesicht gedrückt, „damit sie endlich still ist“. Sein Verteidiger hätte ihm gerne von einer solchen Aussage abgeraten, aber Klaus-Peter G. hat nicht auf ihn gehört. Noch ehe die Verhandlung begann, hat er aus der Untersuchungshaft heraus in einem Brief ans Gericht diesen Tathergang ausführlich beschrieben. Damit hat er selbst den Beleg für die Glaubwürdigkeit seines Sohnes Martin geliefert.

Martin S., heute 36 Jahre alt, kann dem Gericht nicht wirklich erklären, wieso er all die Jahre geschwiegen hat. „Damals“, sagt er, „war ich doch noch ein Junge.“ Zunächst habe er unter Schock gestanden. Er habe noch versucht, den Vater von der Mutter wegzuziehen, sei abgeschüttelt worden wie ein lästiges Insekt. Dann sei er aus der Wohnung der Mutter gerannt, nach Hause. Als der Vater später gekommen sei, habe er ihn gefragt: „Hast Du sie umgebracht?“ Die Antwort: „Ja.“ Seitdem sei der Tod der Mutter zwischen den beiden nie wieder Thema gewesen. „Wie konnten Sie damit leben?“, fragt das Gericht. Martin S. erzählt, dass er „mit dem ganzen Druck vorne und hinten nicht klargekommen“ sei. Um sich zu entlasten, ging er aber nicht zur Polizei, sondern in psychologische Behandlung.

Einzig seiner damaligen Freundin Ricarda hatte sich Martin S., beim Tod der Mutter knapp 16 Jahre alt, damals anvertraut. Diesem Umstand ist zu verdanken, dass sich Klaus-Peter G. nun doch noch für den Tod seiner Frau verantworten muss. Ricarda traf 19 Jahre später Jörg G., einen von Martin S.’ Brüdern. Sie kamen auf früher zu sprechen, und plötzlich erzählte Ricarda, wie die Mutter tatsächlich zu Tode gekommen ist. Jener Bruder, schwer schockiert, ging zu Martin S. und brachte ihn dazu, endlich der Polizei die Wahrheit zu sagen.

Erlebt man den inzwischen 36-Jährigen nun vor Gericht, ist kaum nachzuvollziehen, wie er all die Jahre schweigen konnte. Sein Hass auf den Vater hängt in der Luft wie ein schweres Gewitter. „Haben Sie etwas gegen Ihren Vater?“, fragt das Gericht. Martin S.: „Da kann man wohl von ausgehen.“ Der Richter: „Sind Sie der Auffassung, dass er dafür büßen muss?“ „Deswegen“, sagt Martin S., „bin ich ja wohl hier.“

Der Prozess wird fortgesetzt.