Ein Nachhall von 1968

PROTESTKULTUR In der Diskussionsreihe „Stuttgart 21 – reflexiv“ im HAU legte der Politologe Wolfgang Kraushaar dar, warum der Protest älter und linker ist als bisher vermutet

Die ehemaligen 68er streben dem Pensionsalter entgegen. Jetzt haben sie wieder mehr Zeit, sich gesellschaftlich zu engagieren

VON CHRISTINA STEENKEN

„Stuttgart 21“ ist das Schlüsselwort für den Bürgerprotest von heute. Zehntausende engagieren sich nach wie vor gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt in Stuttgart und wollen politische Entscheidungen rückgängig machen. Auch wenn es nach dem Schlichterspruch von Heiner Geißler, der in dem Konflikt vermittelte, etwas ruhiger geworden ist: Zu Anfang waren sich Beobachter einig, dass hier eine neue Protestkultur entstünde. Man fühlte sich erinnert an die 80er Jahre, an Aufbegehren gegen Kernkraftwerke und die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen.

Doch anders als damals, so die darauf folgende Einschätzung, gehen nicht mehr Mitglieder von Randgruppen auf die Straße, sondern Angehörige der Mittelschicht. Unter den Demonstranten finden sich jetzt Ärzte, Anwälte und Rentner. Statt Blaumann Mantel und Hut – die bürgerliche Mitte eben.

Diese Schlüsse könnten sich nun aber als zu voreilig entpuppen, wie Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung, in einem Vortrag im Hebbel am Ufer (HAU) präsentiert. Mittlerweile liegen zu den „Stuttgart 21“-Protesten empirische Untersuchungen des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) und des Göttinger Instituts für Demokratieforschung vor, die zwar nicht repräsentativ sind, aber einen Einblick in die Strukturen des Bürgerwiderstands geben. Die Studienergebnisse stellte Kraushaar im Rahmen der Vortragsreihe „Stuttgart 21 – reflexiv“ im HAU vor. Die Untersuchungen gingen direkt den Fragen nach, wer genau die Protestakteure sind, welcher Altersgruppe sie angehören und welcher sozialen Schicht. Fragebogen wurden an rund 1.200 Protestteilnehmer im Oktober 2010, also nach der gewaltsamen Räumung des Schlossgartens durch die Polizei, verteilt. Von den Protestierenden in Stuttgart, so die Ergebnisse des Berliner Wissenschaftszentrums, seien rund 62 Prozent zwischen 40 und 64 Jahre alt und nur circa 7 Prozent jünger als 25 Jahre. Das ist bemerkenswert, schließlich macht die Altersgruppe der 40- bis 64-Jährigen nur 36 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, während die unter 25-Jährigen immerhin ein Viertel der Gesamtbevölkerung stellen. Zudem sei rund die Hälfte der Protestler Akademiker.

Es sind also vor allem die Privilegierten, die in Stuttgart versuchen, die Abrissbirnen zu vertreiben. Die Göttinger Demokratieforscher kommen in ihrer Studie zu ähnlichen Ergebnissen. Rund drei Viertel der Demonstranten könnten sich zudem mit den Grünen identifizieren und würden diese sogar bei den nächsten Wahlen wählen. Es ist also nicht der langjährige konservative CDU-Wähler, der hier auf die Straße geht: Die Mehrheit lasse sich vielmehr in der linken Mitte verorten und habe bereits mehr als viele Erfahrungen bei Demonstrationen gesammelt.

Könnten die Protestler von damals also diejenigen von heute sein? Kraushaar sagt: Ja. Die Demonstranten seien weder das Bürgertum noch die Wohlhabenden, sondern die Vertreter einer neuen linken Mitte. Eine neue Protestkultur gibt es laut Kraushaar aber nicht. Immer wieder habe es in Deutschland Bürgerinitiativen gegeben, so wie im Frankfurter Westend Ende der 60er Jahre. Auch schon damals kamen die Demonstranten nicht aus dem Proletariat, sondern aus dem Bürgertum. Die ehemaligen 68er streben nun dem Pensionsalter entgegen. Jetzt haben sie eventuell wieder mehr Zeit, sich gesellschaftlich zu engagieren.

Tatsache ist, dass die Bürger ihre Empörung über das Bahnhofsprojekt in Stuttgart ausdrücken wollen. Sie wünschen sich mehr direkte Demokratie, um am politischen Geschehen stärker beteiligt zu sein. Gegenüber den großen Parteien gibt es seitens der Befragten große Vertrauensdefizite. Auch wenn nach neuestem Erkenntnisstand nicht allzu viele Neulinge des Protests aus dem CDU- oder SPD-Lager stammen, dürften die Studien zum Nachdenken anregen. Eines, so Kraushaars Schlussfolgerung, zeigen die Stuttgarter Proteste also vor allem: Der Staat muss in Zukunft sensibler mit der Meinung des Volkes umgehen. Der Protest in Stuttgart reicht weit über das Projekt des Bahnhofbaus hinaus und ist inzwischen zum Symbol des Umgangs zwischen Politikern und Bürgern geworden.

■ Nächster Termin: 8. 3. 2011; 19.30 Uhr. Aaron Sahr und Philipp Staab zum Thema „Bahnhof der Leidenschaften – zur politischen Semantik eines unwahrscheinlichen Ereignisses“