Die Gewalt ist geblieben

VON TONI KEPPELER

Das Leichenschauhaus in Guatemala-Stadt ist ein umtriebiger Ort. Jeden Tag kommen durchschnittlich zwölf Leichen herein, mehr als zu Zeiten des Bürgerkriegs. Dazu Dutzende verzweifelte Frauen und Männer, die glauben, ihre verschwundenen Angehörigen nur noch hier finden zu können. Die Gerichtsmediziner sind in der Regel die einzigen, die sich mit den hier auflaufenden Leichen befassen. Darüber hinaus wird so gut wie nicht ermittelt. Für weniger als ein Prozent der Morde gibt es einen verurteilten Täter. Im benachbarten El Salvador ist es nicht viel besser. Auch hier erreicht die Zahl der täglich Erschossenen oder Erstochenen die der schlimmsten Tage des Kriegs.

Und dies, obwohl in beiden Ländern seit mehr als einem Jahrzehnt – formal – Frieden herrscht. In Guatemala beging man am 29. Dezember den zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensvertrags, mit dem die Regierung und die Guerilla der „National-revolutionären Einheit Guatemalas“ (URNG) einen bewaffneten Konflikt beendeten, der 36 Jahre gedauert und über 200.000 Tote gefordert hatte. In El Salvador steht heute der 15. Jahrestag des Friedensschlusses an. Nach zwölf Jahren Krieg und 80.000 Toten verwandelte sich die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí in eine politische Partei. Die Guerillakriege Mittelamerikas sind vorbei. Aber friedlicher sind die beiden Länder nicht geworden.

Und noch etwas erinnert im Zentralamerika dieser Tage an frühere Zeiten: In Nicaragua ist am 10. Januar die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) an die Macht zurückgekehrt. Daniel Ortega, zuletzt von 1984 bis 1990 Präsident, wurde im November vergangenen Jahr nach drei Niederlagen in Folge wieder ins höchste Staatsamt gewählt. Und die USA reagierten schon im Vorfeld wie damals in den Achtzigerjahren: Mit der unverhohlenen Drohung, das bitterarme Land wirtschaftlich zu ersticken. Gerade so, als habe sich in 25 Jahren nichts verändert.

Die Justiz deckt Mörder

In Guatemala gibt es weiterhin politische Morde. Die Menschenrechtsorganisation „Gruppe für gegenseitige Hilfe“ spricht von mindestens zwölf im vergangenen Jahr. Der bekannteste dieser Toten war der Parlamentsabgeordnete Mario Pivaral von der oppositionellen Mitte-links-Partei Nationale Einheit für die Hoffnung, der am 6. April erschossen wurde. Im vergangenen Dezember unterzeichnete die Regierung ein Abkommen mit der UNO, nach dem eine Gruppe internationaler Staatsanwälte gegen rechte Todesschwadrone ermitteln soll. Die heimische Justiz traut sich das entweder nicht – oder sie steckt mit den Killern unter einer Decke. „Guatemala ist ein geeignetes Land, um einen Mord zu begehen“, sagte Philip Alston, UNO-Sonderberichterstatter zum Thema außergerichtliche Hinrichtungen im August des vergangenen Jahres.

Schon beim Friedensschluss hatte kaum jemand erwartet, dass Guatemala über Nacht zur Musterdemokratie würde. Zwar sah das zwischen Regierung und Guerilla ausgehandelte Vertragswerk unter anderem vor, dass die Menschenrechte durchgesetzt und Kriegsverbrechen aufgeklärt werden sollen. Doch die URNG war viel zu schwach, um dies auch durchsetzen zu können. Sie hatte ihre beste Zeit in den Siebzigerjahren, als sie 6.000 Mann unter Waffen und dazu 50.000 Milizionäre und 100.000 zivile Unterstützer hatte. Militärdiktator Efraín Ríos Montt hatte diese Stärke in den Jahren 1982/83 mit einem Völkermord gebrochen.

Der Friedensvertrag von Ende 1996 war für die URNG die letzte Chance, erhobenen Hauptes aus dem Krieg zu gehen. Sie träumte zwar bei ihrem ersten Parteikongress davon, „über Wahlen an die Macht zu kommen“. Derzeit jedoch stellt sie gerade zwei der 148 Abgeordneten des Parlaments. Bei der letzten Präsidentschaftswahl hatte der inzwischen verstorbene URNG-Gründervater Rodrigo Asturias 2,58 Prozent der Stimmen erhalten. Das politische Leben Guatemalas spielt sich zwischen rechts und ganz rechts ab.

Täter bleiben ungestraft

In El Salvador gab es beim Abschluss des Friedensvertrags berechtigtere Hoffnungen. Tatsächlich wurde die FMLN bei der ersten Wahl zwei Jahre später auf Anhieb zweitstärkste Partei und stellt seit einem Jahrzehnt die größte Parlamentsfraktion und die Bürgermeister der wichtigsten Städte. Sie könnte längst regieren – wenn sie sich nicht immer wieder selbst ein Bein gestellt hätte. Seit die ehemalige Guerilla eine Partei ist, tobt ein Flügelkampf, der immer wieder mit Prügeln und Fäusten ausgefochten wurde. Die Präsidentschaftskandidaten wurden jeweils nur von einer Hälfte der Partei unterstützt, von der anderen aber ignoriert oder gar bekämpft. Vordergründig beharken sich dabei ein sozialdemokratisch-bürgerlicher und ein sozialistisch-revolutionärer Flügel. Tatsächlich aber, gibt der derzeitige Generalsekretär Medardo González offen zu, geht es eher „um die Macht über den Parteiapparat und um Posten im Parlament und in Bürgermeisterämtern“. Die Parteibasis ist dabei vollständig aus dem Blick geraten.

Während des Bürgerkriegs war es eine Stärke der FMLN gewesen, in so gut wie allen Gewerkschaften und Sozialverbänden vertreten zu sein. Guerilla und Zivilgesellschaft waren eine politische Einheit. Doch kaum war die Zeit des Kriegs vorbei, löste die FMLN diese Verbindung auf und zog ihre Kader ab. Sie wurde zu einer Partei wie alle anderen. Auf soziale Bewegungen hat sie kaum mehr Einfluss.

Nicht einmal die Verfolgung von Kriegsverbrechen interessiert sie mehr. Als 1993 der Bericht einer Wahrheitskommission veröffentlicht wurde und kurz darauf das Parlament eine Generalamnestie für die darin dokumentierten Kriegsverbrechen erließ, war man noch empört. Doch auch damit hat sich die Linkspartei längst abgefunden. Schon im November 2000 sagte ihr damaliger Fraktionsvorsitzender Gerson Martínez, die FMLN habe kein Interesse daran, Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu bringen: „Wir haben denen vergeben, die uns Leid angetan haben, und diejenigen, denen wir Leid angetan haben, um Verzeihung gebeten.“ Fertig.

Wenn salvadorianische Schlächter bestraft werden, dann in den USA: In den vergangenen beiden Jahren wurden dort zwei ehemalige Verteidigungsminister und ein Vizeverteidigungsminister zu millionenschweren Entschädigungszahlen an ihre Folteropfer verurteilt. Ähnliches gilt für Guatemala: Ríos Montt ist zu Hause ein freier Mann und geachteter Vorsitzender einer rechten Partei. Spanien verlangt seine Auslieferung, um ihn wegen Völkermords vor Gericht zu stellen.

Ortega als kleinstes Übel

Bleibt also nur noch Hoffnung für Nicaragua? Nein, auch dort kommt Ortega nur deshalb wieder an die Macht, weil er mit der Rechten gekungelt hat. In Tateinheit mit dem heute wegen Korruption unter Hausarrest stehenden Expräsidenten Arnoldo Alemán hat er das Wahlgesetz so verändert, dass 35 Prozent der Stimmen und ein Vorsprung von fünf Prozentpunkten vor dem nächsten genügen, um gewählt zu sein. Damit sollte garantiert werden, dass entweder ein Liberaler oder ein Sandinist Präsident wird. Nach zwei Liberalen ist nun also Ortega an der Reihe – mit 38 Prozent der Stimmen. Dafür haben die beiden Rechtsparteien im Parlament die absolute Mehrheit. Ortega dürfte das nicht weiter stören. Er gehört längst zum Zirkel der nicaraguanischen Oligarchen und benutzt die FSLN nur, um seine eigenen Machtansprüche zu befördern. Wer dabei nicht mitmachen wollte, wurde längst ausgeschlossen oder aus der Partei geekelt. Sein Exvizepräsident Sergio Ramírez, und die christliche Revolutionsikone Ernesto Cardenal sind nur die prominentesten Opfer der vielen Säuberungen. Statt eines Sandinisten wird ein ehemaliger Sprecher der rechten Contra sein Vizepräsident.

Und doch ist Ortega das kleinste Übel, was Nicaragua passieren konnte. Denn gewählt wurde er wegen seiner linken Vergangenheit, nicht wegen seiner zynischen Gegenwart. Und er zeigt sich noch immer gerne mit Hugo Chávez und Evo Morales, den linkspopulistischen Präsidenten Venezuelas und Boliviens, zuletzt auch mit Raul Castro, dem Statthalter seines kranken Bruders Fidel. Er braucht, wenn er als Präsident nicht alle Unterstützung im Volk verlieren will, ein linkes Feigenblatt für seine Machtpolitik. Ein bisschen Sozialpolitik eben, und das kann für die Masse der verarmten Nicaraguaner nach 16 Jahren neoliberalem Kahlschlag sehr viel sein.

Die FMLN in El Salvador könnte dem Beispiel folgen. Sie hat zwar keinen übermächtigen Caudillo wie Ortega, aber auch bei ihr ist der Säuberungsprozess so gut wie abgeschlossen. Bei der Wahl von 2009 könnte sie zum ersten Mal geschlossen antreten – und gewinnen. Denn auch in El Salvador lechzt das Volk nach 17 neoliberalen Jahren nach einer sozialen Alternative. Nur in Guatemala gibt es keinen auch noch so kleinen Hoffnungsschimmer.