piwik no script img

Das Bild entwickelt sich aus dem Detail

Die Zeiten ändern sich. Nicht nur die des Fabrikarbeiters, sondern auch die des Fotografen: Als Bildjournalist, freier Fotograf und Hochschullehrer interessierte Timm Rautert stets das Verhältnis von Mensch und Arbeit, das er als komplexes Geflecht von Funktion, Technik und Ritual analysierte

VON MARCUS WOELLER

Uniformen gibt es schon seit der Antike. Aber erst im Dreißigjährigen Krieg setzte sich die in Farbe und Schnitt einheitliche Militärkleidung endgültig durch. Die unzähligen verfeindeten Heere und Söldnerbataillone konnten sich so leichter treffen. In der zivilen Arbeit sind Uniformen ebenfalls nützlich; bei religiösen Gruppen markieren sie spirituelle Gemeinsamkeiten. Der Einheitslook ist aber auch vielen Moden unterworfen und trägt manchmal einen ironischen Subtext geradezu mit sich.

Der 1941 geborene Fotograf Timm Rautert hat 1974 an die vierzig Personen zu einem dokumentarischen Projekt eingeladen, ihre Stellvertreterrolle für eine Institution vor der Kamera zu repräsentieren. „Deutsche in Uniform“ zeigt Bestattungsgehilfen und Postboten, Wachmänner und Polizeimeister. Bei manchen Uniformen überwiegt die funktionale Komponente, bei einigen die ästhetische. Die Ironie liegt nicht nur im Detail von kneifenden Jacken und schlecht geschnittenen Hosen, sondern in der Kleid gewordenen Selbstdarstellung des Amtes. Ein Schaffner fuchtelt mit Pfeife und Kelle, „Seine Tollität Jupp I., Prinz Karneval“ präsentiert rheinische Heidewitzka-Fröhlichkeit in weißen Strumpfhosen und Goldbrokat, während der „Hauptsattelmeister des NRW-Landesgestüts“ seine nicht minder fantastische Uniform mit der todernsten Würde einer aussterbenden Berufsgattung trägt.

Im Museum der bildenden Künste Leipzig eröffnet die lange Reihe von Uniformiertenporträts die Werkschau „Timm Rautert. Fotografien 1966–2006“. Rautert hat sich in seinem Berufsleben als freier Fotograf, Bildjournalist und Lehrer vielfach dem Verhältnis von Mensch und Arbeit gewidmet. Er analysiert es als komplexes Beziehungsgeflecht aus Funktionen, Techniken und Ritualen. 1968 besuchte er die Porsche-Fabrik in Stuttgart-Zuffenhausen. In hart kontrastierenden Schwarzweißaufnahmen zeigt er die Einheit von automatisierter Fertigungstechnik und dem arbeitenden Handwerker, der die benötigten Einzelteile aus hunderten Kästen und Schubladen zusammensucht und weiß, welche Schraube wohin gehört.

1992 war Rautert noch einmal bei Porsche. Diesmal fotografierte er in Farbe. An der klassischen Stromlinienform des Sportwagens hat sich kaum etwas verändert, aber die Karosserie wird nun computergesteuert von einem den ganzen Bildraum füllenden Roboter zusammengeschweißt. Von Menschen kaum eine Spur.

Rautert verzichtet auf moralische Untertöne oder Klagen über den Niedergang der Vollbeschäftigung und überlässt sie dem Betrachter. Die Zeiten ändern sich. Nicht nur die des Fabrikarbeiters, sondern auch die des Fotografen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gehörte Rautert noch zu den führenden Fotojournalisten. Gemeinsam mit seinem Partner, dem Autor Michael Holzach, prägte er den Zeitschriftenjournalismus von Geo oder dem Zeit-Magazin mit großen Sozialreportagen und Gesellschaftsporträts. Mit seinen Fotos lenkte er den Blick auf die Contergan-Tragödie, er fotografierte in der Kinderpsychiatrie und auf Sozialstationen, begleitete Obdachlose durch ihren Alltag und Junkies. Daneben entstanden Porträtreihen von Künstlern, Freunden und Kollegen.

Einzelfotos sind bei Rautert immer Teil einer größeren Serie. In den journalistischen Arbeiten bilden sie eine starke Einheit mit dem Text. Dass Fotograf und Autor den Bericht damals gemeinsam entwickelten, begreift man im Vergleich der gehängten großformatigen Aufnahmen mit den historischen Magazinbeispielen. Was in einer Zeitschrift eine große Kraft entwickelt, wirkt an der Wand manchmal zusammenhangslos. Denn Fotografie ist extrem abhängig von ihrem Darstellungskontext. Die theoretische Möglichkeit, Negative in beinahe beliebigem Format zu vergrößern, verleitet zur museal gerahmten Bilderschau, während die adäquate Präsentation bildjournalistischer Fotos, nämlich in Magazinen und Zeitungen, schüchtern in Vitrinen verbannt wird.

Nachdem Holzach tödlich verunglückte, hat sich Rautert vom Journalismus zurückgezogen. Mit dem heute vorherrschenden Diktat des Layouts, in dem sich Text und Bild oft nur noch gegenseitig illustrieren, hätte er vermutlich auch seine Probleme. Seine Anfänge suchte der heute emeritierte Professor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig als Student bei Otto Steinert an der Folkwangschule Essen. Zunächst versuchte Rautert sich an fotoexperimentellen Arbeiten. So gelang ihm mit seiner „Bildanalytischen Photographie“ ein durchaus eigenständiger Beitrag im Kontext von Minimal Art und Konzeptkunst. Er machte abstrakte Belichtungsstudien, graue und schwarze Fotos, in die erst der Betrachter durch Spiegelungen Farbe ins Spiel bringt. Industrielle Gebrauchsanweisungen setzte er im Fluxus-Sinne fotografisch um, als seien es künstlerische Handlungsaufforderungen.

Von der abstrakten Kunstfotografie hat er sich bald abgewandt, in der Theorie blieb er ihr jedoch treu. In den meisten seiner Fotografien entwickelt sich das Bild stets aus den Details. Sie erklären es von innen heraus. „No Photographing“ steht auf einem Schild an einem großen Ahornbaum vor einem Holzhaus. Als Reportagejournalist setzt er sich natürlich darüber hinweg und fotografiert in dem Dorf der Amish People in Pennsylvania, auch wenn deren religiöse Gesinnung die Abbildung des Menschen strikt untersagt. Sein sozialpädagogischer Hintergrund gebietet ihm Respekt vor diesem Dogma. Aber als Bildfinder sucht er einen Weg, „The Amish“ distanziert und doch nah in Szene zu setzen.

Bis 18. Februar, „Wenn wir dich nicht sehen, siehst du uns auch nicht. Timm Rautert Fotografien 1966–2006“, Museum der bildenden Künste Leipzig, Katalog (Steidl-Verlag), 28,– €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen