Wir pfeifen auf eure Diagnose!

Ein breites Bündnis aus behinderten-politischen, psychiatrie-kritischen und feministischen Gruppen lädt ein, am Samstag Berlins zweite Pride Parade „behindert und verrückt“ mitzufeiern

Samstag, 12. Juli

■  Die Parade startet am Hermannplatz, von dort geht es zum Heinrichplatz, wo es eine Zwischenkundgebung gibt. Redebeiträge werden in Gebärdensprache übersetzt; auch Rückmeldung mittels „Stopp! Leichte-Sprache-Karten“ ist möglich. Ab ca. 17.30 Uhr Bühnenprogramm vorm Südblock am Kottbusser Tor, Admiralstraße 1–2.

■  Das Mio’L lädt im Anschluss zum Weitertanzen ein. Ab 21 Uhr, in der Muskauer Straße 15

Im Netz: www.pride-parade.de

Der Kapitalismus braucht uns autark, flexibel, leistungsstark und genussfähig: So können wir hochfrequent seine Produkte konsumieren und laufend neue Bedürfnisse an ihn stellen, um unsere Idealexistenz zu komplettieren. Wer nicht in das schmale Raster passt, nicht passen will, ist ein mangelbehaftetes Wesen. Und kann mittels eines ständig unter Ausschluss der Öffentlichkeit erweiterten Katalogs der behandelbaren Abweichungen schnell als Kranker stigmatisiert werden.

Dass aber in der Abweichung von der Norm kraftvolle Schönheit liegen kann, zeigt die Pride Parade am Samstag. Ein breites Bündnis aus Berliner behindertenpolitischen, psychiatriekritischen und feministischen Gruppen organisiert die Parade, die zum zweiten Mal stattfindet.

Im vergangenen Jahr sprach unter anderen Theresia Degener, die eine Veteranin der emanzipatorischen Behindertenbewegung der Bundesrepublik ist, von den Zielen der „Disability & Mad Pride Parade“. Es gehe um eine andere, neue Betrachtung von Behinderung: Weg vom medizinischen Modell, das sein Augenmerk auf therapeutische Herausforderungen lege und einen Mensch mit Behinderung zum leidenden Wesen und Rehabilitationsobjekt erkläre. Stattdessen sei die unveräußerliche Würde ins Auge zu fassen. Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen beispielsweise seien keine Schonräume, sondern eine Form von Ausgrenzung.

Schon beim Lesen des Aufrufs zur Pride Parade wird jedwedem Ableism eine klare Ansage entgegengesetzt: „So wie wir sind, sind wir gut!“. Und fröhlich und wehrhaft geht es weiter: „Barrieren ins Museum, Schubladen zu Sägemehl, Diagnosen zu Seifenblasen!“ Laute Stimmen wie diese sind notwendig und angebracht: Menschen mit Behinderungen erfahren als Fürsorge getarnte Entmündigungsversuche oder schlicht Entmündigung. Erfahrene Selbstständigkeit und Akzeptanz sind keine Selbstverständlichkeit für die, die wegen einer Behinderung, einer psychischen Erkrankung oder einer vom Mittelmaß abweichenden Lebendigkeit als behandlungsbedürftige oder gar heilungsbedürftige Mängelwesen betrachtet werden.

Zwar wies die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland deutlich in Richtung Inklusion und Gleichberechtigung, doch ändern sich gesellschaftliche Normen nur sehr langsam und keinesfalls per Gesetzesbeschluss.

Anpassungsdruck kennt jeder, ob nun mit oder ohne Behinderung. Doch was ist mit der individuellen Wahrnehmung der eigenen „Andersartigkeit“? Der Deutungshoheit über den eigenen Körper? Da sind die Worte von Matthias Vernaldi, Mitglied der Presse AG der Pride Parade, erfrischend: „Wir stellen die Frage, ob es überhaupt erstrebenswert ist, in einer Gesellschaft, die offensichtlich ungerecht ist, inkludiert zu sein. Ob es nicht eine gesellschaftsverändernde Kraft sein kann, außer der Norm zu stehen.“

Bis in die 1970er Jahre hinein seien beispielsweise psychotische oder schizophrene Menschen als kreative Quellen in Kunst, Literatur und Musik immer sichtbar vorhanden gewesen. „Mit dem Siegeszug der Psychopharmaka nahm das ein Ende“, sagt Vernaldi. Diese transformierende Kraft soll nach Willen der Organisatoren wieder spürbar werden. Eine Veranstaltung wie die Pride Parade kann dazu einen Anstoß geben.

Vernaldi, der sich schon lange vielfältig engagiert, zum Beispiel gründete er die Initiative Sexybilities und sitzt im Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen, sieht die Parade am Samstag zwar als eine politische Veranstaltung, doch zentral sind für ihn die Freude, die Selbstakzeptanz und die Feier.

Bei der Parade kommen Menschen zusammen, die ihr Leben, so wie sie sind, jetzt führen möchten. Nicht erst, wenn Gesetze geändert sind, Geld da ist oder ein neues Medikament sie verändert. „Es gibt keinen Veränderungsbedarf, der an uns herangetragen werden müsste“, sagt Vernaldi. Stattdessen sind die Zustände vielfach nicht in Ordnung. Da das Leben aber bereits jetzt stattfindet, fordern die Aktivistinnen des Bündnisses: „Trau dich zu fordern, was du brauchst! Zeig deine Sehnsüchte, deine Ansprüche, dein Begehren!“

Ein gutes Beispiel ergibt sich aus dem alltäglichen Bedürfnis nach Mobilität: Wer auf den „Fahrdienst für Menschen mit Behinderungen“ angewiesen ist, um etwas zu unternehmen, kann sich nie spontan entscheiden, ob die Veranstaltung gerade erst so richtig gut wird. Man kann auch nicht einfach nach Hause fahren, wenn es langweilig wird oder mit anderen zusammen den Ort wechseln, sondern der Fahrdienst kommt zur bestellten Zeit.

Mit dem Bus zu fahren kann bedeuten, dass Rollstuhlfahrer und ihre eventuelle Begleitung mit Kinderwagenfahrern und ihren Begleitern um die begrenzten Stellplätze konkurrieren müssen.

1979 sei die Stadt Berlin im Vergleich mit anderen Städten Weltspitze gewesen, was die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen angehe, erzählt Vernaldi. Diesen Spitzenplatz habe die Stadt längst verloren. Dabei zeigen die Arbeitsgruppen, die die Pride Parade organisieren, wie flink und am Bedürfnis der Menschen orientiert die Vorgehensweise aussehen könnte: Die Parade ist natürlich um Barrierefreiheit bemüht. Die Vielfalt und Bedachtheit, die in der Planung deutlich werden, ist schlicht beeindruckend. Das Wissen um Bedürfnisse und auch der Respekt, der diesen Bedürfnissen entgegengebracht wird, führen dazu, dass Bestrebungen in Richtung Barrierefreiheit manchmal anderswo plötzlich wie hastige Alibis wirken. Bei der Parade wird es unter anderem Flüster-Übersetzungen der Redebeiträge in mehrere Sprachen geben; Rückzugsräume für die, die zur Ruhe kommen oder sich ausruhen wollen, und „Leichte-Sprache-Karten“, mit denen signalisiert werden kann, dass ein Redebeitrag zu schnell oder zu kompliziert ist.

Von Ideen wie diesen profitieren auch Kinder; aber auch Menschen, die nicht perfekt deutsch sprechen oder ältere Personen mit altersbedingt nachlassendem Gehör. Einen Rückzugsraum schätzt auch, wer schnell in Anspannung gerät oder ein Kind versorgen möchte. Plötzlich ist sie sehr gut vorstellbar, diese Inklusion, die gesetzlich verankert ist, aber doch so weit weg erscheint. So könnte sie zumindest aussehen. DONATA KINDESPERK