Sechzig Minuten volle Dröhnung

Andreas Thiel: „Die Erinnerung an die Spiele in der Westfalenhalle löst bei mir Gänsehaut aus“

AUS DORTMUND HOLGER PAULER

„Handball-Mekka“, „Arena der Sensationen“ oder „Koloss aus Stahl und Glas“. Die Dortmunder Westfalenhalle war immer schon mehr als ein Zweckbau – vor ihrer Zerstörung 1944 und auch nach dem Wiederaufbau in den 50er Jahren. Vor allem aber war und ist sie die Kultstätte des deutschen Handballs: Die Weltmeisterschaften der Frauen (1965) und der Männer (1982) fanden hier statt, und auch der VfL Gummersbach, der laut Eigenwerbung „erfolgreichste Handballverein der Welt“, feierte hier seine großen internationalen Erfolge.

Auch bei der heute beginnenden Handball-WM der Herren wird die Westfalenhalle Spielstätte sein: als Reminiszenz an die Erfolge der Vergangenheit. „In unserer Stadt wird wieder Sportgeschichte geschrieben“, sagt Jochen Meschke, Geschäftsführer des Westfalenhallen-Ensembles; neben der großen entstanden später noch zwei kleinere Hallen.

Leider hat es 2007 nur noch für vier Spiele der Hauptrunde gereicht, drei davon vermutlich mit Beteiligung der deutschen Mannschaft. Die Kölnarena oder das Gerry-Weber Stadion in Halle/Westfalen haben dem alten Bau den Rang abgelaufen.

Immerhin ist die Dortmunder Westfalenhalle offizieller Partner des Deutschen Handball-Bundes (DHB). Kein Wunder – der mächtige Verband residiert nur wenige hundert Meter entfernt. „Wir arbeiten oft und gern mit den Handballern zusammen“, sagt Michael Tiemann, Objektleiter des Veranstaltungszentrums. Leider habe in Dortmund der Fußball dem Handball „viel Luft genommen“. Die ehemaligen Heimvereine TuS Wellinghofen und OSC Thier Dortmund sind längst vergessen. Borussia Dortmund heißt seitdem der Sportmonopolist der Ex-Bierstadt.

Auch optisch stand die Westfalenhalle mit ihrem charakteristischen „U“ der örtlichen Union-Brauerei auf dem Hallendach bald im Schatten des Fußballs. Zur WM 1974 wurde in unmittelbarer Nachbarschaft das Westfalenstadion errichtet. Früher war die Halle von weither aus dem Bergischen Land sichtbar. Seit dem zweistöckigen Ausbau des Stadions in den 1990er Jahren jedoch verstellt dieses den Blick auf die Halle. Dennoch: Wer sich über die B1 den Veranstaltungszentren nähert, kommt an der Westfalenhalle als Blickfang nicht vorbei. Wie ein riesiges, gestrandetes Ufo liegt sie da. Oval, von roten Stahlträgern und viereckigen Glasfenstern umschlossen – unfähig zum Weiterflug. Die fetten Jahre sind vorbei.

Noch bei der Handball-WM 1982 fand in der Halle das Finale zwischen der UdSSR und Jugoslawien statt. 14.000 Zuschauer sahen eine Revolution im Welthandball. „Die Russen waren die ersten, die mit schnellen Gegenstößen arbeiteten“, erinnert sich der damalige Torhüter der deutschen Nationalmannschaft, Andreas Thiel. Der „Hexer“ musste wie seine Mannschaftskollegen mit Platz sieben zufrieden sein.

Dabei war die DHB-Auswahl Titelverteidiger im eigenen Land. Der Weltmeister von 1978 zählte zu den Favoriten, musste aber schnell erkennen, dass es mit dem zweiten Titel innerhalb von vier Jahren wohl nichts werden würde. Niederlagen in der Hauptrunde hatten den Traum zunichte gemacht. Der Modus indes machte es möglich, dass die Mannschaft doch noch das Spiel um den dritten Platz erreichen konnte. Ein Sieg im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz war Pflicht – in der Westfalenhalle.

Trainer Vlado Stenzel war überzeugt vom Erfolg seiner Mannschaft. Andreas Thiel, damals von Ersatztormann Klaus Wöller im Kasten abgelöst, wurde nach Großwallstadt geschickt, um sich dort den mutmaßlichen Gegner Jugoslawien anzuschauen. Im Klubheim sah sich Thiel das Spiel Deutschland gegen die Schweiz im Fernseher an. Ein zähes Match, keinesfalls so klar, wie es sich der Trainer erhofft hatte. Wenige Sekunden vor Spielende stand es 16:16, das deutsche Team hatte den Ball. Erhard Wunderlich setzte zum Wurf an und wurde plötzlich von einem Gegenspieler gestört. Freiwurf, die Zeit lief weiter, Spielende.

„Ich bin am Bildschirm fast durchgedreht“, sagt Thiel. Erst am nächsten Tag wurde bekannt, dass der damalige Schweizer Nationaltrainer Sead Hasanefendic einen siebten Spieler aufs Feld geschickt hatte, um dem Wurf zu trotzen. Die Schiedsrichter hatten nichts bemerkt, selbst den Fernsehkameras war die Regelwidrigkeit entgangen. Zum Glück. Statt auszurasten, schlichen die enttäuschten Fans nach Hause. „Ein Reporter hat uns den Vorfall erst am nächsten Tag mitgeteilt“, erzählt Andreas Thiel. Proteste waren sinnlos, das Spiel konnte nicht wiederholt werden. Es hätte den Spielplan zu sehr durcheinander gewirbelt.

Der Mythos Westfalenhalle hatte einen kleinen Knacks bekommen. Doch die positiven Erinnerungen überwogen. Dank des VfL Gummersbach. Die Oberbergischen fühlten sich im „Exil“ Westfalenhalle wohl. Immer dann, wenn sie das internationale Parkett betraten, die Gegner größer wurden und die heimische, 2.000 Zuschauer fassende Halle zu klein wurde, begab sich der Gummersbacher Tross auf die A45: Über die Sauerlandlinie ging es Richtung Dortmund. 14.000 Zuschauer waren regelmäßig dabei. Natürlich nicht nur aus Gummersbach. „Wir hatten ein Einzugsgebiet von Ostwestfalen bis in den Ruhrpott“, sagt Andreas Thiel. Seit 1979 war er im Verein und erlebte die letzte erfolgreiche Phase des deutschen Rekordmeisters.

Doch die Erfolgsgeschichte begann früher: im Jahr 1970, als der VfL den SC Dynamo Ostberlin mit 14:11 schlug und den Europapokal der Landesmeister holte. 1983 gelang es den Gummersbachern zum bislang letzten Mal, die Westfalenhalle in kollektive Ekstase zu versetzen. Gegen ZSKA Moskau verloren sie zwar das Rückspiel um den Landesmeister-Cup. Da sie aber das Hinspiel in Moskau mit 19:15 gewonnen hatten, reichte es noch einmal für den wichtigsten europäischen Vereinstitel. Erhard Wunderlich und der heutige Nationalspieler Heiner Brand gehörten zum Kader, Petre Ivanescu trainierte das Team.

„Die Erinnerung an die Spiele in der Westfalenhalle löst bei mir heute noch eine Gänsehaut aus“, erzählt Andreas Thiel. Die Zuschauer erzeugten mit Pfiffen, Schreien und Fanfaren einen permanenten Geräuschpegel, womit sie den Gegner beeindruckten und den Gastgeber antrieben. 60 Minuten volle Dröhnung. Etwas Vergleichbares hat Thiel seither nie wieder erlebt. Auch nicht in der Kölnarena, dem Hauptveranstaltungsort der Weltmeisterschaft 2007, die zur zweiten Heimstätte des VfL Gummersbach geworden ist.

Die Westfalenhalle hat ausgedient. Leider, denken sich die alten Spieler. Auch wenn die Halle voll ist, komme in der Kölnarena keine Handballstimmung auf, sagt Thiel. „18.000 Zuschauer können ganz schön leise sein. Ich hoffe, dass sich das zur WM ändert.“ Immerhin, die Westfalenhalle gehört ebenfalls zu den zwölf Spielstätten. „Eine gute Entscheidung“, sagt Thiel.

Als der riesige, damals noch leicht eckige Klotz aus Glas und Holz am 28. November 1925 nach nur sechs Monaten Bauzeit eröffnet wurde, dachte noch niemand an Hallenhandball. Dortmunds Oberbürgermeister, der nationalliberale DVP-Politiker Ernst Eichhoff, nannte die Halle „eine wertvolle Gabe für ganz Westfalen, für den ganzen Westen“. Und der Sportjournalist Paul Bering schwärmte: „Köln ist eine Fabrik, Brüssel eine Garage und Paris einen Bahnhofshalle neben diesem Bauwerk.“

Ganz so war es zwar nicht, doch eine Kapazität von bis zu 6.000 Steh- und 10.000 Sitzplätzen war damals ziemlich einmalig. Und die Konstruktion? Keine Sicht behindernden Säulen und keine Ecken. Sechs Bögen aus Holz trugen das damals größte Kuppeldach Europas.

Schon bald lockte der Sport die Massen in die Westfalenhalle. Das legendäre Radsport-Duo Kilian/Vopel räumte in den 1930er Jahren bei den Sechs-Tage-Rennen alles ab. Am 19. Juni 1927 besiegte Schwergewichtsboxer Max Schmeling den Belgier Delarge und wurde Europameister.

Auch die Politik entdeckte das monumentale Bauwerk für sich. Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann sprach im Jahr 1932 vor 23.000 Genossen. Auch die Nationalsozialisten mobilisierten in die Westfalenhalle: 10.000 Menschen wollten am 10. März 1932 Adolf Hitler und Hermann Göring sehen. Die Nazis mussten in die Westfalenhalle ausweichen, da Bochum, die Gauhauptstadt Westfalens, keine vergleichbare Veranstaltungsstätte zu bieten hatte. Bei den Reichtagswahlen im Jahr 1932 blieb die NSDAP in Dortmund mit weniger als 20 Prozent der Stimmen weit unter dem Ruhrgebietstrend.

Vielleicht ahnten die Dortmunder damals schon, dass früher oder später auch die Westfalenhalle unter dem NS-Regime leiden würde. Im Mai 1944 brannte der Holzbau nach einem Luftangriff völlig aus. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Halle nur noch als Kriegsgefangenenlager benutzt. In den Flammen starben mehrere tausend Gefangene und Zwangsarbeiter.

Die neue Westfalenhalle wurde 1952 eröffnet. Statt Holz und Glas bildeten nun Stahl und Glas die Substanz des ovalen Mehrzweckbaus. Bundespräsident Theodor Heuss und Dortmunds OB Fritz Henßler (SPD) sprachen vor 5.000 geladenen Gästen. Zum Rahmenprogramm gehörte ein Eishockeyspiel zwischen Preußen Münster und den Grashoppers aus Zürich. Auch Franz-Josef Strauß oder Konrad Adenauer nutzen den Bau später als Bühne. Doch vor allem die SPD fühlte sich in der Herzkammer der Sozialdemokratie wohl. Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder holten sich hier die Unterstützung für ihren Bundestagswahlkampf. Und ein anderer Sozialdemokrat, NRWs ehemaliger Sozialminister Hermann Heinemann, managte 20 Jahre lang die Geschäfte der Halle. Ihren Alterungsprozess konnte er nicht aufhalten.

Mittlerweile dient die Westfalenhalle vor allem als Messezentrum. Rockkonzerte finden heute eher im Oberhausener Centro statt und die Skate-WM ist nach Münster zurückgekehrt. Wer für die wenigen Spiele der Handball-WM keine Karten bekommen hat, kann in die benachbarte Westfalenhalle 2 ausweichen. Dort werden alle WM-Spiele im Public-Viewing gezeigt. Schön, wenn auch kein wirklicher Ersatz.