Palästinensisches Roulette

GAZA Die Hamas startet ihre Raketen aus Wohngebieten. Bewohner sind schutzlos ihrem Schicksal ausgeliefert, denn es gibt keine Bunker

TEL AVIV taz | Kriegsalltag in Israel und Palästina: In Tel Aviv, Jerusalem, und dem ganzen Süden Israels heulen rund um die Uhr Sirenen auf, Menschen rennen in Bunker. Doch so unerträglich diese Routine erscheinen mag, die Bewohner Gazas würden sich solche Zustände wünschen: „Für uns gibt es keine Vorwarnzeit“, sagt Raji Sourani aus Gaza-Stadt. „Wir erfahren von Luftangriffen durch keine Sirene, sondern durch Explosionen.“ Seit Wochen kann der sechzig Jahre alte palästinensische Menschenrechtler nicht mehr schlafen: „Dauernd donnern hier die Explosionen, dass die Fensterscheiben zittern. Es rüttelt an den Nerven, weil man nie weiß, wo die nächste Bombe einschlagen wird.“ Die meisten Verletzten, die er kenne, seien von Schrapnell- oder Glassplittern getroffen worden.

In Israel ist der Zivilschutz genauestens geregelt: Vor 1991 musste jedes Haus einen Bunker haben, seither hat sogar jede Wohnung einen eigenen raketensicheren Raum. Zudem gibt es öffentliche Schutzräume; Kindergärten, Schulen und Universitäten verfügen per Gesetz über raketensichere Räume. Wer sich dennoch im Dauerraketenhagel fürchtet, besucht Verwandte außerhalb der Gefahrenzone.

„Wir können nirgendwohin. Wenn die Bomben fallen, beginnt unsere Form von russischem Roulette: Wir können nur hoffen, dass es uns nicht trifft“, sagt hingegen Sourani.

Selbst Familien mit Kindern müssen den Krieg in ihren Wohnzimmern überstehen: „Es gibt keinen sicheren Ort. Nicht draußen, nicht im Haus“, sagt der 40-jährige Hammad, der mit seiner Frau und zwei Söhnen im Alter von acht und zehn Jahren im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses in Gaza wohnt. „Es wird ja immer geraten, sich ins Treppenhaus zu flüchten, aber das hat wenig Sinn. Israelis Bomben machen Mehrfamilienhäuser dem Erdboden gleich.“

Es beruhigt ihn nur wenig, dass Israel sich bemüht, nur bestimmte Personen mit Präzisionsschlägen auszuschalten: „Ich glaube nicht, dass sie immer genau wissen, was sie tun.“ Die Hamas schießt ihre Raketen aus Wohngebieten ab, die so zu Angriffszielen werden.

Hammad will seine Söhne schadlos auch durch diese Krise bringen. Jedes Mal, wenn draußen die Feuerbälle in den Himmel steigen, bekommen sie Angst: „An Schlaf kann niemand denken. Selbst wenn sie in ihren Betten sind, starren sie die ganze Nacht die Decke an und warten auf den nächsten Angriff“, erzählt er. Wenn es dann kracht, „besteht mein Großer darauf, dass wir alle zusammen sind. Niemand darf die Wohnung oder das Zimmer verlassen.“ An den sechs Stunden, an denen es Strom gibt, macht er den Fernseher an. Doch seine Kinder wollen sich nicht ablenken lassen: „Sie wollen dann Nachrichten sehen. Sie wollen verstehen, warum das alles passiert.“ In den letzten Tagen löchert sein Ältester ihn mit Fragen: „Haben die Israelis auch Kinder? Haben sie auch Angst? Leiden sie wie wir“, will der Zehnjährige wissen.

Trotz allem denken Hammad und Sourani nicht daran, ihre Heimat zu verlassen: „Wir sind Teil dieses Landes, meine Familie hat tiefe Wurzeln hier, die jahrhundertealt sind“, sagt Sourani. „Die Israelis sollten wissen, dass hier nicht alle Militante sind. Mehr als die Hälfte der Bewohner Gazas sind Kinder. Das sollten sie bedenken, bevor sie hier ihre Bomben abwerfen“, sagt Hammad. GIL YARON