Hecht und Leinsamen

Wie das Leben so spielt: warum der Urberliner Jürgen W. Bayer wurde, manchmal Panik hat und stets Frauen aus dem Osten liebt

von THOMAS FEIX

Gestern hätte er nicht gekonnt. Gestern hatte er Kopfschmerzen, einen Migräneanfall. Einen, der die Stimme lahm legt und auch den Rest. Das ist wie lebendig begraben zu sein. Schuld war das neue Handy. Zu viele Knöpfe, zu viel Hin und Her. Er hatte nichts kapiert. Und dann war wieder diese Panik gekommen. „Dabei bin ich ein Sonntagskind.“

Geschichten, mit denen keiner rechnet: Jürgen W. hatte die große Story versprochen, sein Leben, 74 Lebensjahre, seine Frauen, seine Autos, seine Erfolge. Er war laut geworden, nachts an der Tankstelle, als er die Frontscheibe seines Taxis wusch, vor Begeisterung über sich selbst. Komm vorbei, besuch mich, hatte er gerufen, gleich morgen, ich erzähle dir alles. Und hatte dann nicht gekonnt. Jetzt kann er wieder nicht, aber er muss, er hat am Telefon zugesagt. Er weiß nicht, wo er anfangen soll, und er weiß nicht, wo es enden wird.

Jürgen hat den „Kommandostand“ erklommen, die obere Etage seiner Penthousewohnung im Berliner Tiergarten, das Hotel „Intercontinental“ in Sichtweite. Rundumblick, verglast bis unters Dach, fleischige Gewächse auf der Terrasse, sattgrün und riesig, der reinste Urwald, und darüber nichts als Himmel. Ein Traum. Und der Hausherr lehnt sich zurück in seinen weißen Korbsessel, schiebt die Pantoffeln von den Füßen, schaut nach draußen und schlürft einen schleimigen Sud aus Leinsamen. Gut für die wichtigen Dinge im Leben, sagt er. Die Verdauung, den Stuhlgang, die Potenz. „Wichtig, ja, das sind sie. Wenn nicht am allerwichtigsten.“ Jürgen schluckt ganze Löffel voll zerkochter Leinsamenkörner.

Vor 35 Jahren hat er das letzte Mal einen solchen Brummschädel gehabt. Er hatte sich eben selbstständig gemacht, „ick hatte achtzehn Taxen“, und gleich wurde ihm eine Fahrerin umgefahren. Nachts, auf dem Steglitzer Damm, eine tüchtige Frau. Ein heranrasendes Auto zermalmte ihr den Unterleib, als sie dabei war, den Kofferraum ihres Taxis zu öffnen.

Jürgen verstand beides nicht. Den Unfall nicht und den Tod der Frau nicht, und dass er dem Warum hilflos ausgeliefert war, löste Panik in ihm aus. Das tobte im Hirn und trieb ihm die Galle hoch. Als er das grüne Zeugs das Klo hinuntergurgeln sah, beschloss er, dass es mit dem Verstehen ein Ende habe muss: „Zählen darf nur, was Kasse macht.“ Von da an ging es aufwärts und im Grunde immerzu abwärts auch. Und dieses Auf und Ab, dieses Rauf und Runter hat ihn ein ordentliches Stück nach oben gehievt. „Aber, na, Moment doch mal, so läuft’s doch immer ab und im Kopf sowieso!“ Ach, L!M!A!A! Jürgen greift sich den rosa Kaffeepott mit dem Sud darin.

Ein Mann, der weiß, was er will? Es war knapp. Weil er beim Test die Vorsilbe von „subtropisch“ statt mit „b“ mit „p“ geschrieben hatte – „Na, wie bei Suppe, Herrgottnocheins!“ – nahm ihn die Feuerwehr nicht. Das Gefängnis tat es. Als Hilfsaufseher. Seine Frau riet ihm zu. Wegen der leichten Arbeit und der Pension. Nach einem halben Jahr Gefängnisdienst schmiss er hin, ging er auf den Bau. Schuftete im Akkord, für 17 Mark die Stunde, damals sehr viel Geld. „Der Knast hat mich krank gemacht. Lauter unschuldig Eingesperrte, und dann diese Düsternis.“ 1953 war das. Jürgen war Anfang zwanzig.

Runde fünfzehn Jahre und eine große Summe auf dem Bankkonto später kam Jürgen W. die Erleuchtung: „Taxen werden immer gebraucht.“ Er kaufte Mercedes-Limousinen und setzte jeweils einen Mann hinters Lenkrad. Seither hat er tagein, tagaus gerechnet und bilanziert, war sein eigener Steuerberater. Heute besitzt er Wohnungen, reichlich Bares. Millionen? Halt! Gonzo würden ihn seine Neider nennen und Spinner. „Sonst noch Fragen?!“ Seine Stimme klingt plötzlich gar nicht mehr nett.

Sie war auch seine Ära, die Ära, die mit dem Jahr 1968 begann. Da nämlich wurde der Urberliner Jürgen W. Mitglied der bayerischen Gemeinde Riedenburg. Weil er im Fluss des Ortes angeln wollte, die größten Hechte der Republik. Weil er Franz Josef Strauß und die CSU wählen wollte, denn „die Linken können nicht mit Geld umgehen“. Da wusste Jürgen schon, dass er selber es konnte. Also stand er am Flussufer, mit der Angel in der Hand. Träumte sich hinein in eine Zukunft mit schönen Frauen und schnellen Autos.

Mit den Fischen hat es geklappt, „anderthalb Zentner die Woche“ zog er aus dem Wasser. Mit dem Strauß als Bundeskanzler, das hat nicht geklappt. Musste es auch nicht. Jürgen ist trotzdem nicht zu kurz gekommen, hat Ferrari und Porsche gleichzeitig gefahren und manchmal einen Mercedes SL dazu, und die Frauen wie die Hemden gewechselt hat er auch. In seiner Glanzzeit hatte er drei, vier nebeneinander, erzählt er, neben der eigenen Ehefrau, versteht sich, und nicht mal das hat ihm gereicht. „Viermal wöchentlich in den Puff, das war ich mir schuldig.“ Das war Ende der Siebziger. Er ist noch immer mit derselben Frau verheiratet, aus steuerlichen Gründen. Die beiden leben seit fast dreißig Jahren getrennt.

„Ohne Weiber geht’s nun mal nicht.“ Kurz nach der Wende war es Kerstin. Mitte dreißig, blondiert. „Stell dir vor, die Titten bis unters Kinn geschnallt“, Jürgen zeigt es mit ausladender Handbewegung. Eine Frau aus dem Osten im Barbie-Outfit. Er war beeindruckt von so viel Exotik und von ihrem Motto „Der Ku’damm ist mein Laufsteg“. Leider galt es nur die ersten Wochen. Kerstin hatte Rheuma, ein steifes Genick, kaputte Knie, litt an chronischer Schlaflosigkeit. Sie brauchte Haarteile, sperrig wie die Bärenfellmützen der englischen Königlichen Garde, und an die drei Stunden, ehe sie endlich ausgehfertig war. Bis sie die aufsteigende Hitze befiel, so lange wollte er dann doch nicht warten: „Wie ein Maikäfer hat sie auf dem Rücken gelegen und gesagt, Jürgen, nu mach mal.“ Genau so. Jürgen W. steckt die Nase in den Pott und schlürft den Rest des Körnersuds in sich hinein.

Nach sechs Jahren mit Kerstin ging Jürgen erneut auf die Suche. Er blieb beim Osten. Polinnen, Tschechinnen, eine Frau aus Moskau, eine Lehrerin. Seit fünf Jahren hat er eine Frau aus Sachsen, aus Leipzig, über dreißig Jahre jünger als er. Ein Glücksfall, sagt er. Nennt sie sein Juwel und seinen Jungbrunnen. Geküsst wird bei Jürgen und Conny mit Zungenschlag oder gar nicht.

Ein goldfarbener Plastikbilderrahmen, ein buntes Figürchen auf einem Bord, drei Kunstblumen in einer schlanken Vase. Schummerig ist es in der unteren, der Wohnetage, und zu kühl. In einer Ecke ein Ledersofa, gegenüber der Fernseher. „Mit 55 habe ich angefangen, mich jünger zu machen.“ Jürgen spielt 40 Jahre alte, auf Videobänder kopierte Urlaubsaufnahmen ab. Zu erahnen sind weibliche Gestalten mit üppigen Rundungen. Im März wird Jürgen 75.

Überall an ihm hat der Wohlstand Spuren hinterlassen. An den Händen, weich und schlaff. An den Augen, die in Fettpölsterchen schwimmen. Beim Haar mogelt Jürgen. Beim Haar, das gekräuselt in den Nacken fällt, lässt er den Friseur mit Wicklern und Blondiermittel nachhelfen. Die falsche Lockenpracht und der schwarze Borsalino. Die getönte Pilotenbrille und die gescheckte Pelzjacke. Wenn so ein Playboy aussieht. Na dann.

Er ist alter Westberliner Klüngel. Leute wie er haben einst zu bestimmen versucht, wie es in der „Frontstadt“ zu laufen hat. Nicht im Großen, nicht wie die Großen, aber sie taten so. Jeder kannte jeden, und sie trafen sich, wenn es was zu verabreden gab. Jetzt sitzen sie da. Verzehren das Geld, das sie angehäuft haben. Jeder für sich. Jürgen hält inne. Jürgen hat sich leer geredet. Sein Blick geht durch das Wohnzimmerfenster nach draußen. Sucht das Stück Himmel ab, das das Fenster freigibt. Was wäre noch zu sagen. Vielleicht: Ob das Wetter wohl besser wird? Angesagt ist es. Jürgen beugt sich vor, wiegt den Kopf. Zum Mittag hin soll es aufreißen und die Sonne rauskommen.

Jürgen blickt auf die Uhr am linken Arm, dann auf die am rechten. Links ein Rolex-Imitat für sechzig Euro, rechts eine Omega „Constellation“, Weißgold, 1970 war sie 13.000 Mark wert. Ein Zocker hat sie ihm damals für den halben Preis überlassen. Jürgen trägt sie, weil sie täglich bewegt werden muss. So wie sein Ferrari täglich bewegt werden muss, „sonst geht die Klimaanlage kaputt“.

Jürgen W. schätzt Licht, Wärme, endloses Schwadronieren. Das, was er „in den Tag hineinleben“ nennt. Im Liegestuhl sitzen, zum Beispiel, die Beine hoch. Wie man das so macht, wenn man dösen will, im Sommer. Nach dem Mittagessen. Im Freien. Auf der eigenen, 50.000 Euro teuren Yacht.

Termine, Schreibkram, Behördengänge schätzt Jürgen W. nicht. Bücherlesen hält er für Zeitverschwendung. Lieber sieht er den Vögeln auf der Terrasse zu. „Früher habe ich sie totgeschossen, mit dem Luftgewehr, heute füttere ich sie.“ Die, die vom Zoo herübergeflattert kommen. Und die Spatzen, Amseln, Meisen und Rotkehlchen. Keine Tauben. Tauben machen bloß Dreck, sagt er. Er kennt sie alle, die Vogelarten, so wie er früher die berühmten Schönheiten mit Namen kannte: Marina Vlady, Romy Schneider, Catherine Deneuve, Sophia Loren.

Er hat Geschäfte gemacht. Nebenher, früher, mit Autos. Es hat ihn vermögend gemacht. Nichts Kriminelles. Eher was Moralisches. Es gab eine Bedarfslücke. Jürgen hatte sie erkannt, und er hat sie gefüllt. Er sagt nicht, wie. Man hatte seine Kontakte, sagt er, und man hat sie entsprechend genutzt. Man muss zusehen, wo man bleibt, sagt er. Immer. Er findet, dass er ein grundehrlicher Mensch geblieben ist. Grundsolide. Über all die Jahre hinweg. Er hat sie nie abgelegt, die Zucht, nur so viel auszugeben, wie er gerade im Portemonnaie hat. Er holt sich das Geld, das er zum täglichen Leben braucht, von der Straße. Er fährt selber Taxi, nachts. Mal sind es fünfzig Euro, mal hundert, mal zweihundert. Netto.

Am Himmel hängt ein grauer Schleier. Sprühregen fällt. Der Wind rüttelt an den Ästen der Bäume, er versucht, sie in eine Richtung zu drücken. Jürgen sagt: „Wenn das noch besser werden soll.“ Er sieht auf die Uhr am rechten Arm. „Halb zwölf.“ Schiebt die Unterlippe vor. „Müsste jetzt anfangen. Wird sonst nichts mehr.“ Seit Tagen fragt er sich, warum einer der sechs Fahrer, die er jetzt noch hat, den Motor seines niegelnagelneuen Taxis ausgebaut, verkauft und einen Uraltmotor eingebaut hat. Er versteht das nicht. Er wird den Mann nicht entlassen. Beim Gedanken daran spürt er wieder diese Panik kommen. „Wer weiß, was dem Nächsten einfällt, den ich dann einstellen müsste.“

Jürgen W. will seine Ruhe. Er will auch nicht mehr diese Fragerei, das Stillsitzen, das Antworten. Gerade merkt er es, zwei Stunden sind vergangen. Er ist doch schon alt. Es gibt nichts mehr zu erzählen. Alles ist ihm zu viel. Alles ist gesagt. Schluss jetzt. Aus damit. Er will auf Wiedersehen sagen. Und dann auf der Terrasse sitzen, eine Handvoll Sonnenblumenkerne bei sich und Brot. Er will nach oben blicken. Darauf warten, dass die Vögel kommen. Ist doch alles nichts.

THOMAS FEIX, geboren 1960, lebt als freier Autor in Berlin. Zuletzt schrieb er für das taz.magazin die Porträts „Mensch, Jochen!“ und „Endlich Frau König“