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„Kleinfamilie hab ich nie vermisst“

Meine Eltern haben sich 1947 scheiden lassen, da war ich gerade fünf Jahre alt. Mein Vater hatte als junger Mann bei einem Motorradunfall ein Bein verloren und musste nicht in den Krieg. Damit war er einer der wenigen Männer in der Stadt und heiß begehrt bei den Frauen, die ihren Mann im Krieg verloren hatten. Er hatte Liebschaften, kam nachts oft betrunken nach Hause. Ich erinnere mich, wie ich meine Mutter weinen hörte, wenn ich abends im Bett lag.

Schließlich reichte sie die Scheidung ein, unter anderem wegen seiner „ehewidrigen Beziehungen“, so steht es im Gerichtsurteil. Meine Mutter und ich zogen in eine neue Wohnung. Ich habe meinen Vater einmal in der Woche gesehen, bis er 1953 in den Westen ging. Danach beschränkte sich unser Kontakt auf gelegentliche Briefe und Päckchen. Seine Familie, meine Großeltern und meine Tante, haben sich rührend um mich gekümmert. Deswegen habe ich unsere Kleinfamilie aus Vater, Mutter, Kind auch nie vermisst. Wie auch? Das kannte ich gar nicht. Ich war froh, dass ich wenigstens noch einen Vater hatte, der in meiner Stadt lebte, bis ich zehn Jahre alt war. Die meisten meiner Freunde hatten ihren Vater im Krieg verloren. Und für das, was Kleinfamilie heute ist – Sonntagsausflüge, Urlaube, Nachmittage auf dem Spielplatz –, hatten wir nach dem Krieg sowieso keine Zeit. In unserem Alltag ging es darum, genug zu essen zu haben, warme Kleidung und eine Wohnung.

Bärbel Kämmer, 71 Jahre alt, hat als Bauingenieurin gearbeitet. Heute ist sie Rentnerin in Erfurt

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