Motiv: Langeweile

NAHOST Der Palästinenser Mohammed Abu Chedair wurde von Ultraorthodoxen getötet, die sogar andere Juden hassen, weil sie ihnen nicht fromm genug sind. Sie gelten als rassistischstes Glied der israelischen Gesellschaft

■ Raketen auf Israel: Eine Rakete aus dem Gazastreifen hat am Freitag eine Tankstelle im Süden Israels getroffen und den schwersten Schaden seit Beginn der Offensive vor vier Tagen angerichtet. Drei Menschen wurden dabei verletzt, einer von ihnen schwer. Seit Dienstag wurden nach Militärangaben mehr als 550 Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert. Erstmals schlugen auch Raketen aus dem Libanon in Israel ein.

■ Bomben auf Gaza: Das israelische Militär setzte seine Luftangriffe auf inzwischen mehr als 1.100 Ziele im Gazastreifen fort. Dabei wurden bisher insgesamt mindestens 98 Menschen getötet und rund 670 verletzt.

■ Vorgeschichte: Die Spannungen zwischen Israel und Palästinensern hatten zugenommen, nachdem vor Wochen drei jüdische Jugendliche im Westjordanland verschwunden und schließlich ermordet gefunden worden waren. Israelische Soldaten hatten tagelang vergeblich mit Razzien im Westjordanland nach den Jugendlichen gesucht. Dabei waren mehrere Palästinenser erschossen worden. Wenige Stunden nach dem Begräbnis der drei vergangene Woche wurde ein 16-jähriger Palästinenser entführt und später verbrannt aufgefunden (siehe links).

■ UN-Kritik: Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay sieht in Israels Offensive im Gazastreifen einen möglichen Verstoß gegen das Völkerrecht. „Wir haben zutiefst verstörende Berichte erhalten, wonach viele zivile Opfer, darunter Kinder, das Ergebnis von Angriffen auf Wohnhäuser waren“, erklärte Pillay am Freitag. Zugleich rief sie die bewaffneten Palästinensergruppen auf, sich an die internationalen Regeln zu halten.

■ Vermittlung: Die USA haben sich ebenso wie Ägypten als Mittler in dem Konflikt angeboten. Präsident Barack Obama hat deswegen am Donnerstagabend mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu telefoniert. Die Regierung in Kairo hat die Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts schon für vorerst gescheitert erklärt. Die Bemühungen seien an der „Sturheit“ der Beteiligten gescheitert, teilte das Außenministerium in Kairo am Freitag mit. (dpa, afp, taz)

AUS ADAM UND BET SCHEMESCH SUSANNE KNAUL

Der Verdacht lag auf der Hand. Als Mittwoch vergangener Woche die Nachricht von dem grausamen Mord an Mohammed Abu Chedair bekannt wurde, wurden die Täter unmittelbar im national-religiösen Lager und unter Israels radikalen Siedlern vermutet. Denn der 16-jährige Palästinenser war am Tag nach der Beerdigung der zuvor ermordeten drei israelischen Teenager von seinen Eltern als entführt gemeldet worden. Wenige Stunden später hatten Polizisten den toten Körper des Jungen gefunden, der lebendig verbrannt worden war.

Die Vermutung, dass es sich um einen Racheakt für die drei israelischen Teenager handelt, bestätigte sich. Überraschend war hingegen die Herkunft der Täter. Nur einer der zunächst sechs Verhafteten kommt aus einer jüdischen Siedlung im palästinensischen Westjordanland, die anderen aus Jerusalem und der israelischen Kleinstadt Bet Schemesch. Zudem ist keiner der Verhafteten national-religiöser Jude. Aber alle gehören zur ultraorthodoxen Gemeinde.

Die ultraorthodoxen Charedim – auf Deutsch „Gottesfürchtige“ – sind „mit Abstand das rassistischste Glied in der israelischen Gesellschaft“, erklärt der Soziologe und Experte für jüdischen Terror, Professor Gidon Aran von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sogar innerhalb der eigenen Gruppe bestehen Ressentiments – Juden mit europäischer Herkunft gegen die aus Nordafrika und umgekehrt. „Was alle verbindet, ist der Hass auf die Araber und andere Nichtjuden“, sagt Aran. Dabei spielten eher „Instinkte“ und die Begeisterung für den „starken und den stolzen Juden“ eine Rolle, als politische Ideologien. „Sie können überzeugte Antizionisten sein und gleichzeitig gegen die Araber vorgehen.“

Dass die Täter nicht in den Kreis der üblichen Verdächtigen der radikalen Siedler, gehören, überraschte Aran nicht. Die Siedler seien gut organisiert und „viel zu schlau“, um sich so schnell erwischen zu lassen, meint der Professor. Er schüttelt den Kopf über „die Idioten“, die noch während der Entführung des jungen Mohammed von Sicherheitskameras gefilmt wurden. Aran vermutet, dass die radikale Siedlerjugend trotz regelmäßiger Überfälle auf arabische Dörfer „nicht die Skrupel für einen so grausamen Mord hätte“.

Soweit trotz Nachrichtensperre bislang an die Medien durchsickerte, ist der älteste Täter 30 Jahre alt und stammt aus der Siedlung Adam im Westjordanland. Von Jerusalem aus sind es bis dorthin kaum zehn Minuten mit dem Auto, wenn nicht gerade Stau ist an dem palästinensischen Verkehrsknotenpunkt Hisme. Die Siedlung ist rund 30 Jahre alt, grün und gepflegt mit hübschen Neubauten. Auf der einen Seite sieht man das Panorama der Stadt Jerusalem, auf der anderen die Judäische Wüste.

Hagar Ben-Chaim will nicht glauben, dass der Hauptverdächtige des Mordfalls aus Adam kommt. Vor zwei Jahren ist die junge Mutter wegen der billigen Preise für Wohnraum hierher gezogen. Ideologie habe keine Rolle gespielt. „In Jerusalem hätte ich mit dem Geld, das hier für fünf Zimmer reichte, kaum zwei bezahlen können“, erklärt Ben-Chaim.

Der Pizzabäcker Dudu, bei dem Hagar Ben-Chaim mit ihren Kindern einkehrt, versteht genauso wenig, wie jemand einem anderen Menschen so brutales Leid zufügen kann. „Wir sind doch alle Kinder Gottes“, meint er – Araber wie Juden. Mohammeds Mörder müssten „für immer hinter Gitter kommen“. Dudu lebt, wie er sagt, mit seinen palästinensischen Nachbarn in Frieden, kaufe bei ihnen ein. Und „sie arbeiten bei uns“, fügt Hagar an. Jüdischer und palästinensischer Terror müsse mit gleicher Münze bezahlt werden.

In den Nachrichten hat Hagar gehört, dass die Eltern des Mörders in Bet Schemesch zur Miete wohnen. Zudem sei gesagt worden, „dass der Mann geistesgestört war und Medikamente einnehmen musste, um ruhig zu bleiben“. Angeblich war er Optiker und unterhielt einen Laden in Jerusalem.

Mindestens zwei der Tatverdächtigen stammen aus Bet Schemesch, angeblich Brüder, beide sollen minderjährig sein. Die Kleinstadt etwa 20 Kilometer südwestlich von Jerusalem wird in den letzten Jahren verstärkt zum Anziehungspunkt für die Radikalsten unter den Charedim. Die Aggressionen richten sich meist auf die weltlichen Bürger der Stadt. Es kommt zu Übergriffen gegen „unkeusch gekleidete“ Frauen, die angespuckt und manchmal noch schlimmer belästigt werden.

„Es gibt keinen Sport, kein Kino, keine Ausbildung, keinen Sex“

GIDON ARAN, SOZIOLOGE

„Die Charedim sind Opfer ihres eigenen Erfolgs“, erklärt der Terrorexperte Aran. Studierten im Mittelalter nur die intellektuellen Eliten ganztags in den Talmudschulen, so geht in Israel „jeder männliche Ultraorthodoxe zwischen 5 und 40 Jahren in die Jeschiwa“. Die Ansprüche dort sind enorm. „Nicht jeder schafft es, täglich 18 Stunden stillzusitzen und den Talmud zu studieren.“ Die Schwächeren rücken erst auf die hinteren Bänke und verlassen die Religionsschulen später ganz.

„Tausende“, so meint Aran, lungerten auf der Straße herum, sind mit den eigenen Familien zerstritten, religiös und ideologisch verwirrt und haben nichts zu tun. „Es gibt keinen Sport, kein Kino, keine berufliche Ausbildung und keinen Sex.“ Wenig verwunderlich sei es deshalb, wenn sich die „aufgestaute Energie und die Hormone“ ein anderes Ventil suchten.

Im Einkaufsviertel von Ramat Bet Schemesch, dem frommeren Teil der Stadt, werben die beiden 15-Jährigen Jossi Abraham und Israel Cohen für ein Sommerlager, das sie ehrenamtlich mitgestalten. Die beiden orthodoxen Teenager gehen selbst in eine Jeschiwa, gehören aber nicht zu den Charedim. „Wir wissen, dass sie Rassisten sind“, meint Israel, „sie hassen ja sogar uns, weil wir ihnen nicht fromm genug sind“. Wie der Mord an dem jungen Mohammed passieren konnte, versteht er trotzdem nicht. Die Gewalttat sei „unjüdisch“, meint Jossi und findet, dass „die Täter noch härter als palästinensische Mörder bestraft werden sollten“. Schon jetzt kursieren auch in Bet Schemesch Gerüchte über psychische Probleme der Täter.

„Die Gemeinden und die Familien werden sich sicher an die Version halten, dass die Mörder verrückt waren“, meint Terrorexperte Aran. Es sei der einzige Weg, um die eigene Gruppe von dem Gewaltakt zu distanzieren. Aran geht davon aus, dass die Täter nicht mehr ganz zur Welt der Charedim gehörten und gleichzeitig die Schwelle zur normalen Welt noch nicht überschritten hatten. „Es sind Rowdys“, die, aufgepeitscht durch die Welle der Emotionen nach dem Tod der drei israelischen Teenager, ihren brutalen Aggressionen freien Lauf ließen.