: Bestimmte Bilder sind schon da
THEATER Ungewöhnlich empathisch geht Patrick Wengenroth im Studio der Schaubühne an die berühmte Geschichte der „Christiane F.“ heran
Ihren Namen kennt jeder. Er steht als Synonym für frühe Drogensucht, Haschisch bis Heroin, Kinderprostitution, Westberlin. Christiane F. war gerade mal 16 Jahre alt, als ihr die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mehr oder weniger vom Munde abschrieben. Es erschien 1978, wurde 1981 verfilmt und ist mittlerweile weltweit über 3 Millionen Mal verkauft. Ein Klassiker, Pubertäts- und Schullektüre – mit mindestens ebenso großem Faszinations- wie Abschreckungsfaktor.
2007 saß Christiane F. bei Sandra Maischberger im Talkshowsessel und sprach über die „schlimme Endzeitstimmung“, die in ihrer Jugend die Gesellschaft beherrschte. „Es wurde wahnsinnig viel schwarzgemalt. Es war zu politisch, zu grau.“ Atomkraftwerke, Ölkatastrophen, RAF, das alles war „ein fieses Feeling“. Für Parallelen zum Heute braucht es nicht viel Fantasie.
Nicht gerade die typische Steilvorlage für den Regisseur Patrick Wengenroth, der seine Stoffe mit Vorliebe durch den Kakao zieht und mit aktuellen Assoziationen zu lässig-ironischen Collagen versampelt. An der Schaubühne hatte er sich in der letzten Saison erst Schillers Rede über die „Schaubühne als moralische Anstalt“ und dann Brechts Vision des epischen Theaters vorgeknöpft und daraus so hochkomische wie intelligente Trashtheaterfunken geschlagen. Insofern ist „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ im Schaubühnen-Studio ein ungewöhnlicher Wengenroth-Abend – ungewöhnlich unironisch, ungewöhnlich empathisch erzählend.
Anders als der Film von Uli Edel, der auf sozialrealistische Drastik setzte, immer wieder auf die Nadeln im Arm draufhielt, konzentriert sich Wengenroth auf die Vorgeschichte sowie die Mechanismen, die in die Drogenkarriere hineinführen: die Sehnsucht nach Anerkennung und Dazugehören, nach einem heilen Zuhause, das Christiane nicht bei den Gleichaltrigen in Gropiusstadt, nicht bei ihren geschiedenen Eltern, sondern erst in der Disko-Clique, später bei ihren Fixer-Kumpels fand.
Das Wengenroth-Quartett aus Jule Böwe, Lea Draeger, Franz Hartwig und Ulrich Hoppe teilt sich Christiane und die anderen Rollen – eine kollektive Erzählhaltungsprobe. Sie alle stecken, der damaligen Mode gemäß, in engen Jeans, Draeger trägt die langen Haare offen, Böwe die silberne Jacke der Film-Protagonistin, Hartwig das Halstuch ihres Freundes Detlef und natürlich hochhackige Stiefel.
Dazu verströmt Mascha Mazurs Glas-Schaukasten auf der ansonsten leerer Bühne die Atmosphäre jener heruntergekommen versifften Orte um den Bahnhof Zoo, die Christianes Welt ausmachten.
Oben ist er von fahlem Neonlicht umflackert, unten mit weißen Fliesen eingefasst, innen drin nebelt’s bisweilen und blinken fürs Disko-Flair bunte Lichter auf. Zu Anfang sitzt Wengenroth selbst drin, wie zugedröhnt, mit ins Gesicht fallendem Schwarzhaar – Gefängnis, Exklusivitätszone und voyeuristischer Fixer-Zoo in einem.
Natürlich geht es bei dem notorischen Adidas-Träger nicht ganz ohne Songs ab. Auch wenn die Lieder von Udo Lindenberg, eingespielt von Stammmusiker Matze Kloppe, diesmal fast verzichtbar scheinen. Sie handeln von Fixerinnen namens „Schneewittchen“, von kaputter Teenie-Jugend und konterkarieren das Ganze auf sehr merkwürdige Art und Weise, indem sie vom Elend singen und dabei denkbar unangemessen wirken.
Die vier Christianes lehnen lässig an der Wand, halten sich an den Händen oder krümmen sich zum Brechreiz. Draeger schreit sich in einem eindringlichen, fast in Rap verfallenden Monolog (Selbst-)Beschimpfungen von der Seele: „verhetzt, verlogen, verhasst“. Hartwig legt eine toll hibbelige Michael-Jackson-&-Co.-Tanz-Nummer hin. Und einmal kugeln sie alle zu einer kurzen Ausbruchssequenz von David Bowie über die Bühne, während Wengenroth mit entsprechender Starperücke auftritt. Kurz vor Songbeginn bricht er jedoch ab und zitiert aus einem Begleitbuch für Lehrer – kleiner Seitenhieb wider die pädagogische Indienstnahme des Bestsellers.
Das bleibt neben dem Maischberger-Interview der einzige Fremdtext an diesem Abend. Auch das Minni-Maus-Kostüm in Pink, in das sich Wengenroth zwischenzeitlich hineinzwängt, hätte es nicht gebraucht. Aber von den altbewährten eigenen Theatermitteln kommt man so schnell wohl nicht runter.
ANNE PETER
■ Wieder am 16., 17., 18. 2., 20.30 Uhr, Studio der Schaubühne
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