piwik no script img

die jazzkolumneDas Leben braucht kein Notenpapier

Seit den Sechzigerjahren setzt sich der Saxofonist Fred Anderson in Chicago für improvisierte Musik ein – Nachwuchsarbeit inklusive

Er hat immer gearbeitet. Seine Hosentaschen sind meist gut gefüllt, nicht besonders sorgsam gefaltete A4-Kopien schauen heraus. Oft sieht er aus, als müsste er später noch bei seinen regulären Jobs vorbeischauen, die er jahrzehntelang verrichtet hat und die ihn an einer internationalen Karriere hinderten. Auslegeware zuschneiden und verlegen, Jobs, mit denen er seine Familie ernährt hat, das Haus abbezahlt. Der Saxofonist Fred Anderson wurde 1929 in Louisiana geboren. In den Sechzigerjahren war er Mitbegründer der AACM, erreichte jedoch nie den internationalen Bekanntheitsgrad seiner Kollegen, weil er nur selten außerhalb Chicagos auftrat. Dort öffnete 1982 sein Club „The Velvet Lounge“, der zum lokalen Jazzzentrum wurde. Anderson gilt als der große Förderer der jungen Chicagoer Szene, mit dem melodieorientierten Schlagzeuger Hamid Drake entwickelte er ein stark rhythmisches Improvisationskonzept. Beim New Yorker Vision Festival wurde er 2005 mit einem Fred Anderson Day geehrt, beim Schweizer Intakt Label ist jetzt eine wunderschöne Live-CD erschienen, auf der man ihn, Drake und die Pianistin Irène Schweizer in Duo- und Trio-Settings hören kann: Schweizer-Anderson-Drake, „Willisau-Taktlos“ (Intakt 104). Dank dieser Musik ist das Jahr schon fast gerettet.

Er musste die Verantwortung für seine Familie übernehmen, berichtet Anderson beim Gespräch in New York. Bevor das Art Ensemble of Chicago nach Paris ging, hatte dessen Saxofonist Joseph Jarman in seiner Band gespielt. Da Anderson 1959 ein Haus kaufte und seine drei Kinder versorgen musste, habe er nicht weggehen können. Er habe Geschirr gespült und viele andere Jobs gemacht, um das Familieneinkommen zu sichern. Nebenbei studierte der Autodidakt Musik. Mitte 1965 war er bei einem der ersten Treffen dabei, aus denen die schwarze Musikerselbsthilfeorganisation Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) hervorging – es sei damals höchste Zeit gewesen, resümiert Anderson. Erst 1976 fing er selbst international zu touren an, 1978 trat er beim Festival in Moers auf. Abgesehen von materiellen Bedingungen brauche die Entwicklung eines eigenen künstlerischen Konzepts viel Zeit – nichts geschehe hier über Nacht, sagt er. Nach der Eröffnung des „The Velvet Lounge“ 1982 kam er erst 1994 wieder nach Europa. Er versuchte von der Arbeit in dem kleinen Club zu leben, seit 1993 gibt es dort regelmäßig Livemusik, erst kürzlich zog „The Velvet Lounge“ in neue Räumlichkeiten um.

Das größte Hindernis sei, dass man die Musik der AACM nicht im Radio hören kann, sagt Anderson. Somit werde den Menschen seines Landes eine große Kulturleistung vorenthalten. Es geht dabei vor allem um eine grundlegend neue Perspektive: Man fördert Musiker, die einander zuhören, sodass sie sich gegenseitig antworten können. Nach Anderson studiert man permanent und begreift dabei, dass Musik ein Mysterium ist, so wie das Leben.

Anderson wuchs in einer Gegend von Illinois auf, wo es ganz normal war, dass man die Musik von Charlie Parker kannte. Er hat ihn noch spielen sehen, und das sei ein unglaubliches Erlebnis für ihn gewesen, erzählt er. Nach Parkers Tod müssen die Dinge komplizierter geworden sein, aber diese Revolution sei ja hauptsächlich in New York gelaufen, sagt er. In Chicago hörte man die Platten, und er habe sofort gespürt, wie sehr Ornette Coleman von Parker beeinflusst war. Doch Parker schien ihm damals noch wesentlich freier zu sein.

Heute bemängelt Anderson, dass es keinen Lehrplan für kreative Musik gibt, räumt allerdings auch ein, dass man diese Sounds schlecht in einem Klassenraum lernen kann. Man brauche Sponsoren. Diese Musik lernt man auf der Bühne, durch das Spielen – es gäbe viele Musiker, die gut Noten lesen können, aber wenn man das Notenpapier wegnimmt, fällt ihnen nichts mehr ein.

Für Anderson ist Musik ernste Arbeit und seriöse Kommunikation. Die Hautfarbe spiele für ihn keine Rolle, sagt der afroamerikanische Tenorsaxofonist, der sich stark in jener Tradition begreift, die Louis Armstrong und Duke Ellington begründet haben. Irène Schweizer etwa spreche die gemeinsame musikalische Sprache, sie kenne sich da aus. Die gemeinsame CD entstand bei Festivalauftritten in der Schweiz. Für Anderson reflektiert diese Musik Erfahrung, wie man die Welt erfährt, was man hört. Diese Musiker haben eine Community, ihre Basis sind zwölf Töne. Dagegen hat Anderson die Erfahrung gemacht, dass die Leute, die sich auf die Schwarz-weiß-Problematik einlassen, ein Problem haben.

Was seinen Club betrifft, sprechen die Leute von der Fred-Anderson-Universität. Er hat zwar kein Klassenzimmer, aber viele Aufnahmen, die man hören kann. Der Workshop beginnt für Anderson, sobald man den Club betritt: Zu Hause kann man in Büchern stöbern, und wenn alles erforscht ist, kommt man zu ihm in den Club und probiert es aus.

Dass er unter solchen Bedingungen innovativ geblieben ist, liegt für Anderson daran, dass er das eigene Leben entsprechend ausgerichtet hat. Er sei nicht drogenabhängig und sei froh darüber, dass viele junge Musiker heute ebenfalls clean sind. Das sei früher anders gewesen, doch zum Glück habe er überlebt und könne jetzt die Dinge tun, die er liebe. Musik ist harte Arbeit, sagt Anderson. Er formuliert damit eine sehr typische Haltung seiner Generation. Dann nimmt er die Einkaufstüte aus Plastik und geht. Zur Schicht, zum nächsten Gig. CHRISTIAN BROECKING

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen