JÖRN KABISCH über DAS GERICHT
: Eine vergessene Liebe

Sie haben noch kein Bratkartoffelverhältnis? Dann sollten Sie sich schnellstens eines zulegen

Köstlich, wenn auf dem Teller ein Haufen goldgelb knuspriger Kartoffelscheiben liegt, ein bisschen dunkler darin die gebratenen Zwiebelringe, die für die leicht süße Note zuständig sind, und mit dabei, crunchy, salzig und herzhaft: Speckwürfel. Wo Sie solche Bratkartoffeln bekommen? Eigentlich überall in Ostdeutschland. Von Schwerin bis runter nach Schleiz. Wobei wir beim Thema sind, dem Bratkartoffelverhältnis, en gros und en detail.

Ich bin in meinem speziellen Bratkartoffelverhältnis noch nie enttäuscht worden. Angefangen hat es kurz nach der Wende, als man in Ostberlin noch überall Soljanka, Tote Oma oder Letscho auf den Speisekarten fand. Und wie ich von meiner ersten Paris-Fahrt noch den Geschmack eines warmen Croissants auf der Zunge habe, als wenn es gestern gewesen wäre, kann ich mich genau an die erste Portion Bratkartoffeln erinnern: 1992, im Herbst, in Saßnitz auf Rügen. Eigentlich tröstlich: So vieles hat sich in Ostdeutschland verändert, aber gute Bratkartoffeln muss man nicht lange suchen, erst neulich in Neuzelle … Und ich rätsele, woran das liegt? Vielleicht weil mit dem Anbaudekret von Friedrich II. die Kartoffel von Preußen aus ihren Siegeszug durch Europa nahm? Die Deutschen hatten aber schon mal ein bessere Beziehung zu der gelben Knolle als heute, eben genau zu der Zeit, als der Begriff Bratkartoffelverhältnis erfunden wurde, Anfang des 20. Jahrhunderts, als alleinstehende Industriearbeiter manchmal nicht nur als Kostgänger bei der Nachbarin empfangen wurden. Damals gab es Kartoffeln sogar zum Frühstück, während die deutsche Sättigungsbeilage schlechthin heutzutage durch Nudeln und Reis harte Konkurrenz bekommen hat.

Auf einem Flohmarkt habe ich einmal eine alte Kartoffelsteige entdeckt. Der Verkäufer erzählte, wie die Familie noch in den 70er-Jahren darin im Herbst die Kartoffeln eingekellert habe. Der Bauer lieferte einen Zentnersack Linda oder Sieglinde, der hielt dann fast bis Ostern. „Die grünen Stellen und die Augen haben wir einfach weggeschnitten.“ Doch zuletzt, so der Mann, diente die Steige nur noch als Altpapierbehälter.

Was macht man mit einem Zentner Kartoffeln, fragt man sich heute? Ich habe durch die alten Haushalts-Kochbücher geblättert, die ich von meiner Oma geerbt habe. Seitenweise stehen da die Kartoffelrezepte. Als Beilage, als Suppe, als Hauptgericht, als Nachspeise. Und erst die Bratkartoffelrezepte!

Sieht man sich dagegen Kochbücher von heute an, kann ein Zentner Kartoffeln eine ziemliche Belastung werden. Und überall dasselbe Bratkartoffelrezept. Es regiert das Dogma. Für die klassische Zubereitung nehme man Pellkartoffeln vom Vortag, die in Butter ausgebraten werden, liest man da oft. Ganz wichtig: Muskat nicht vergessen. Aber was soll das heißen: klassisch? In den Büchern aus Omas Zeiten, das waren die 40er und 50er, ist die Pellkartoffel-Variante dagegen nur eine unter vielen. Auch aus rohen Knollen ließ sich damals ohne Vorkochen mit ein bisschen Geduld ein knuspriges Pfannengericht voll von leckerem Acrylamid herstellen. Und der Hausfrau ist kein weiteres Experiment verboten, die Bratkartoffeln noch weiter zu veredeln, mit Ei zum Hoppelpoppel, mit Zwiebeln, Möhren oder Essiggurken, mit Speck, Blutwurst oder Kassler, mit Kümmel, Schnittlauch oder Majoran.

Schon bemerkenswert, wie das Wissen über ein einziges Gericht so aussterben kann. Der Verdacht liegt nahe: Aus je mehr Küchen und Zutaten wir uns heute bedienen können, umso weniger Konzentration verwendet man auf das einzelne Produkt selbst. Ist es da ein Wunder, dass man heute immer öfter von Kindern erzählt bekommt, die glauben, Pommes seien eben Pommes und haben nichts mit „ekligem“ Gemüse wie Kartoffeln zu tun? Nein, kein Wunder, wenn Kochbuchautoren aus der Zubereitung eines simplen Gerichts eine komplizierte 24-Stunden-Angelegenheit machen. Und ich fahre bald wieder in den Osten. Zu Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck. Ein ganzer Teller. Ohne Beilage.

Fotohinweis: JÖRN KABISCH DAS GERICHT Fragen zur Kartoffel? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN