Die Visionärin der Hausmannskost

Brandenburgs Osten kämpft mit Landflucht und fehlenden Jobs. Wer bleibt, verzweifelt. Oder tut was. In Groß Neuendorf hat Karin Rindfleisch mit anderen Frauen das Heft in die Hand genommen und ein Gasthaus eröffnet

„Tourismus ohne Gastronomie – wie soll das gehen?“

VON WALTRAUD SCHWAB

Karin Rindfleisch ist keine Vegetarierin. Kostverächterin auch nicht. „Jetzt wird erst mal gegessen“, ruft die wohlbeleibte Frau mit der roten Brille, als sie die Tür zum Landfrauencafé in Groß Neuendorf mit Schwung aufstößt. Zielstrebig geht sie durch den Schankraum, in dem zwei Männer ihr Mittagsbier einnehmen. „Was gibt’s denn?“, ruft sie ihren Kolleginnen, die hinterm Tresen Gläser putzen, zu. Rindfleisch gehört zu jenen Menschen, die mehrere Dinge gleichzeitig tun können – auch zwei Unterhaltungen führen. In der einen erklärt sie die Vorzüge des Nebenzimmers, zu dem es sie zieht. In der anderen geht es um Kartoffelsuppe. Die gibt es heute. Rindfleisch hat sich noch nicht gesetzt, da wird der Eintopf schon serviert. Eine Wurst schwimmt darin. „Bei uns gibt es Hausmannskost“, sagt die 58-Jährige. Denn im Landfrauencafé wollen alle das Handfeste. Visionen sind konkret, Hoffnungen sind am Machbaren ausgerichtet, Möbel sind aus massivem Holz. Die Decken aber, die auf den Tischen liegen, sind pflegeleicht und bügelfrei.

Praktisch, stabil, pragmatisch – das ist Rindfleischs Maxime. Es passt zu ihr und ihren Mitstreiterinnen in Groß Neuendorf – alles Frauen über 50. Wie so viele andere in Brandenburg sind sie nach der Wende arbeitslos geworden und haben angefangen, sich in der Verneinung einzurichten. „Uns will niemand.“ „Uns fragt keiner.“ „Uns hilft kein Mensch.“ Dass sie sich selbst helfen müssen, darauf ist nur Karin Rindfleisch gekommen.

Im Dorf ist bekannt, dass der umtriebigen Frau Optimismus schon in die Wiege gelegt war. Deshalb hat sie der Vorsitzende der Agrargenossenschaft so lange bearbeitet, sich als Bürgermeisterin von Groß-Neuendorf zur Wahl zu stellen, bis sie es tat und gewann. 1994 war das. „Jemand muss doch etwas für den Ort tun“, soll er immer wieder gesagt haben. Bei der Amtseinführung wiederum ermahnte ein Bürger: „Es gibt nur ein Vorwärts, nie ein Zurück.“ Dieser Spruch hat Rindfleisch beeindruckt. Er drückt aus, was sie immer schon dachte. Wenn sie erzählt, wiederholt sie ihn gern. Seine einfache Wahrheit motiviert sie weiterzumachen.

Groß Neuendorf ist klein. Je näher man dem Ort kommt, desto enger werden die Alleen. Versteckt im winterlichen Odernebel schälen sich, fast schon am Fluss, die niedrigen Häuser nur zaghaft aus der Landschaft, die sie umhüllt. Und doch hat Groß Neuendorf „groß“ und „neu“ im Namen. Nomen est Omen. Der Ort musste sich schon oft mit Optimismus und neuen Ideen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Mal war er wichtig – Mitte des 19. Jahrhunderts etwa, als die Oder eine Transportstraße war für Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben. Über 2.000 Leute wohnten damals im Dorf. Die meisten von ihnen waren Schiffer, Schiffseigner und Handwerker. Zwischendurch forderte der Fluss immer wieder seinen Tribut. Hochwasser – die Oder ist unberechenbar. Dazu kamen Kriege. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Dorf überrannt, geriet in die Gefechtslinien. Minen überall. Dann wurde der Fluss Staatsgrenze, und der Ort lag plötzlich im äußersten Osten der Republik. Vielleicht 200 Leute lebten 1945 noch im Dorf, in dem Rindfleisch, Tochter eines Lokführers, Enkelin eines Lokführers, 1949 geboren wurde.

„Eigentlich sind wir ein stures Völkchen“, beschreibt Karin Rindfleisch die Oderbrüchler. Etwas Stoisches, Wortkarges haben nicht nur ihre Mitstreiterinnen. Sie auch. Sie wirkt wie eine, die man nicht so schnell umrennt, die nichts so schnell umwirft. Dabei hat sie ihre Niederlagen doch auch gehabt. Sie musste – so gehört es sich für eine Lokführerdynastie – ebenfalls bei der Reichsbahn lernen. Von 1968 bis 1991 war sie dann Transportleiterin in der Zuckerfabrik. Dort sorgte sie dafür, dass der Zucker pünktlich auf Schiffe und die Bahn verladen wurde. Sie musste es schaffen, dass Waggons vorfuhren, wenn die Fabrik sie brauchte und nicht, wenn die Reichsbahn gerade eine Vakanz hatte. „Das hat mir eine Weitsicht gegeben“, sagt Rindfleisch. Sie meint damit so etwas wie: Ich habe gelernt, mich als Frau gewandt im Staatsbürokratismus durchzusetzen. Eine Schule fürs Leben.

Für sie hätte es in der Zuckerfabrik ewig weitergehen können. Sie hätte die Wende nicht wirklich gebraucht. Sowieso: Im Oderbruch hat man neben der offiziellen Arbeit noch was Eigenes gemacht. „Gurken, Schafe, was eben so anfällt.“ Rindfleischs hatten „tausend laufende Meter Gurken“, die sie nebenbei verkaufen konnten. Eine Form von Selbstständigkeit war das. Ohne Opfer ging das nicht: „Die Gurken müssen im Sommer jeden zweiten Tag gegossen werden. Das war unser Urlaub.“ Deshalb hat sie Mallorca auch nicht vermisst, sie hatte sich die Gurken ja freiwillig ausgesucht.

1991, zwei Jahre nach der Wende, verlor sie ihren Job in der Zuckerfabrik. Die Konkurrenz aus Westdeutschland hatte sich eingekauft und wickelte die Firma ab. Ihr erster Kontakt mit dem Manager verhieß nichts Gutes. Sie waren sechs Frauen in der Abteilung. Der Neue kam rein und sagte, kaum hatte er gegrüßt: „Frauen gehören an den Kochtopf. Hier sind mindestens fünf von Ihnen zu viel.“ Rindfleisch fällt nicht in ein langes Lamento. Sie sieht auch die andere Seite. „Meine Güte“, sagt sie, „wir haben nur noch Westprodukte gekauft und gar nicht gemerkt, dass wir dabei mitgemacht haben, dass unsere Infrastruktur zusammenbrach.“ Jetzt setzt sie alles daran, wieder für die heimischen Produkte zu werben. Nur wenn man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, kann die Überalterung und Verödung Brandenburgs gestoppt werden. Rindfleisch hat verstanden, dass es die Frauen, die Landfrauen ihrer Generation sind, die noch einmal anpacken müssen, damit das klappt. Im alten, gelb gestrichenen Küchenschrank, der im Schankraum steht, stehen exquisite Senfsorten, Sanddornwein und -saft sowie Marmeladen zum Verkauf – hergestellt von Leuten aus der Region.

Als Bürgermeisterin hat Rindfleisch eine Kanalisation und befestigte Straßen durchgesetzt. Sie hat dafür gesorgt, dass für die Hafenanlage mit Getreide- und Verladesilo ein Investor gefunden wurde und dass mit EU-Geldern so viel wie möglich vor dem Verfall geschützt wird. Auch der jüdische Friedhof im Dorf wurde restauriert, dazu die Kirche aus dem 19. Jahrhundert, der im Krieg der Turm weggeschossen wurde, sowie die alten Fachwerkhäuser aus dem 18. Jahrhundert. In einem haben die Landfrauen ein Schmiedemuseum eingerichtet.

„Eigentlich sind wir Oderbrüchler ein stures Völkchen“

Rindfleisch hat schnell gemerkt, dass Tourismus eine wichtige Einnahmequelle für Brandenburg ist. „Unser Glück ist der Oder-Neiße-Radweg“, sagt sie. Es gebe ja nicht viele Dörfer, die so direkt am Fluss liegen wie ihres. Etwas erhöht übrigens. Deshalb hat das Oderhochwasser von 1997 nicht alle Aufbauarbeit, die geleistet wurde, wieder zerstört. Allerdings fragte sich Karin Rindfleisch, als sie noch Bürgermeisterin war: „Tourismus ohne Gastronomie – wie soll das gehen?“

Der Schwarze Adler, das alte Wirtshaus, war heruntergekommen und stand leer. Ein Betreiber war weit und breit nicht in Sicht. „Wir müssen es selber machen“, meinte Rindfleisch und trommelte die Frauen im Dorf zusammen. „Alle haben angepackt. Jeder, den wir gefragt haben, hat geholfen.“ 2000 wurde das Landfrauencafé, ein Zweckbetrieb, eröffnet. Neben dem Restaurant und der Pension mit drei Doppelzimmern – 500 Übernachtungen waren es im ersten Jahr, letztes Jahr schon 850 – wurde es nach und nach um einen großen Veranstaltungsraum mit Bühne erweitert. Hier finden Hochzeiten, Konzerte, Seniorenabende, Firmenjubiläen, Kreistagssitzungen oder Filmvorführungen statt. Außerdem bietet das Landfrauencafé mittlerweile einen fahrbaren Mittagstisch an. Täglich wird für 60 Personen gekocht. Und es hat die Bibliothek, die geschlossen werden sollte, in seinen Räumen aufgenommen. Acht versicherungspflichtige Arbeitsplätze hat das Landfrauencafé bis heute geschaffen.

Ein Selbstläufer ist das alles dennoch nicht. Rindfleisch, ihre Mitstreiterinnen, aber auch Kolleginnen aus Projektagenturen müssen weiter neue Ideen entwickeln. Deshalb gibt es jeden Sommer Programm. So haben polnische und deutsche Künstler und Künstlerinnen imaginäre Brücken über die Oder geschlagen. Es gab Symposien, die sich dem Mythos Oderbruch näherten. 300 Jahre deutsch-polnische Nachbarschaft wurde ebenfalls unter die Lupe genommen. Dieses Jahr wird es eine Konferenz deutscher und polnischer Kriegskinder geben.

Rindfleisch, die Optimistin, die vierfache Mutter, fünffache Großmutter macht weiter. „Wenn nicht wir, wer dann?“ Zwei ihrer Töchter sind arbeitslos. „Ich will nicht in den Westen, es muss doch auch in Brandenburg für mich Arbeit geben“, sagt die Jüngste, die in Lübbenau wohnt. In diesem Satz stecken Frage und Antwort. Arbeit gibt es schon, vielleicht, ja. Aber man muss den Mut haben, sie sich selbst zu schaffen. Karin Rindfleisch, die sich in neun Jahren als Bürgermeisterin als Dorfmanagerin bewährt hat, macht das vor. Eine Selbstverständlichkeit ist es nicht. Gefragt, ob das Landfrauencafé auch ohne sie laufen würde, schüttelt sie den Kopf. „Noch nicht“, sagt sie.