„Ein Scheiß bist du!“

Straßenkinder aus vier Ländern bringen beim Theaterfest „Diyalog“ ihr Leben auf die Bühne

von Alke Wierth

Einen unsichtbaren Ball mit großer Gestik von einem zur anderen werfen, verträumtes Tanzen zu romantischer Musik – die Übungen sind manchen der jungen Schauspieler im großen Saal des HAU 2 sichtbar peinlich. Man sieht ihnen an, dass sie nicht gewöhnt sind, sich selbstvergessen gehen zu lassen, Raum zu beanspruchen für ihre Person.

Genau darum geht’s hier aber: Die 30 Jugendlichen, die im HAU 2 ein Stück über das Leben von Straßenkindern entwickeln, spielen sich selbst. Sie stammen aus Istanbul, Rom und Lyon, aus Kreuzberg und Mariendorf. Viele kommen aus Migrantenfamilien arabischer, türkischer, kurdischer oder afrikanischer Herkunft. Deshalb funktioniert die Kommunikation, auch wenn wenige der Jugendlichen Englisch und Französisch sprechen: Sie können sich mit Samia aus Neukölln auf Arabisch, mit Yüksel aus Istanbul auf Türkisch verständigen, und für die anderen wird übersetzt.

Straßenkinder – für die, die aus Lyon, Rom und Berlin stammen, heißt das vor allem: Sie hängen draußen ab. Keine Arbeit, keine Lust auf Schule, in der Familie gibt’s nur Enge, Ärger und Druck. Die, die hier sind, hatten immerhin ein bisschen Glück. Sozialarbeiter kümmern sich um sie und helfen ein wenig.

Anders sind die Lebenserfahrungen der Istanbuler. Apo, Baha, auch die 19-jährige Didem haben jahrelang auf der Straße gelebt. Schlafen in leer stehenden Häusern oder Autowracks, die tägliche Suche nach Essen, auch nach Drogen, um sich mit Klebstoff oder Verdünner aus der Grausamkeit der Realität zu schnüffeln: „Am schlimmsten“, meint Didem, „war aber die Angst.“ Angst vor Gewalt, der von Fremden, aber auch der, die sich unter den Straßenkindern abspielt. Angst vor Vergewaltigungen, vor der Polizei: Man mag fast nicht mehr fragen, was die Kinder zu Hause erlebt haben, dass sie dieses Leben dem in ihrer Familie vorzogen. Man könne noch die Kerben auf seinem Kopf sehen, wenn die Haare kurz sind, sagt Yüksel: Er ist von seinem Vater immer wieder mit einer Kette geschlagen worden.

Gelandet ist er nach Jahren auf der Straße wie die anderen beim Verein Umut Cocuklari – Hoffnungskinder. Der frühere Journalist Yusuf Kulca, selbst in Heimen aufgewachsen, kümmert sich dort um Jugendliche, die wegen Volljährigkeit nicht mehr von staatlichen Maßnahmen erfasst werden. Es habe sich in den letzten Jahren in der Türkei sehr viel Gutes getan bei der Betreuung von Straßenkindern, sagt Kulca. Das Wichtigste sei aber nicht passiert: nämlich den Familien zu helfen, aus denen die Kinder kommen. Prügelnde Väter oder verlassene Mütter, die ihre Kinder allein durchbringen müssen: „Da müsste man ansetzen, um zu verhindern, dass Kinder überhaupt auf der Straße landen“, meint Kulca.

Die Erfahrung von Gewalt, auch sexueller, auf der Straße, in der Gruppe, in der Familie, verbindet die Istanbuler Jugendlichen mit denen aus Frankreich oder Berlin. „Was bist du? Du bist ein Scheiß!“, schreit Ilhan in ihrem Stück Sami an, der sich als Held präsentiert, nach dem er gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Selbstwert, Selbstbewusstsein vermittelt ihr Alltag diesen Kindern kaum. Das Theaterprojekt soll das ändern. Finanziert unter anderem vom „Aktionsprogramm Jugend“ der Europäischen Union will es Jugendliche am interkulturellen Austausch beteiligen, die sonst ausgeschlossen sind.

Bei der Istanbuler Gruppe zeigt das schon Wirkung: Einige planen, nun Fremdsprachen zu lernen. Zurück nach Istanbul wollen sie alle. Das dürfte nicht nur die Behörden freuen, die mit der Erteilung der Visa für die türkischen Jugendlichen lange zögerten. Es freut auch Yusuf Kulca, der darin einen Erfolg seiner Arbeit sieht: „Weil es zeigt, dass sie heute daran glauben, dort eine Zukunft zu haben.“

„Diyalog Straßenkinder 06“: noch heute und morgen um 20 Uhr im HAU 2, Hallesches Ufer 32. Infos zum Festival: www.theater-diyalog.com