Dissidenz in Wildlederslippern

POP Im Deutschen Theater entertainte Rocko Schamoni mit neuem Buch und tränenkomisch servierten Geschmacklosigkeiten

„Auch Neukölln ist jetzt schon abgewichst. Welches Viertel walzt ihr Wichser als Nächstes platt?“

Gleich am vierten Januar dieses Jahres trat Rocko Schamoni auf den Plan, mit seinem vierten Roman „Tag der geschlossenen Tür“, dieser eine Art Sequel zu „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“ von 2007. Beide Bücher haben denselben Protagonisten: Michael Sonntag, einen zwischen extremer Antriebslosigkeit, Welt- und Selbsthass sowie sinnfreien Irrwitzaktionen mäandernden Bewohner von St. Pauli, der – diese Behauptung stützt sich auf Selbstauskünfte des Autors – durchaus ein paar Gemeinsamkeiten hat mit seinem Erfinder. „Tag der geschlossenen Tür“ ist eine lose verknüpfte Reihung kurzer Episoden. In denen geht es um die Widerwärtigkeit lärmender Kinder, um die Selbsteinstellung als Museumswärter, die Verschickung absichtlich hanebüchener Romanexposés an Verlage, widerliche Innenstadt-Eventisierungen und die unerfüllte Liebe zu einer streng frisierten Handyverkäuferin.

Angenehm arroganter Hass

Beim stillen Allein-Lesen berühren die Melancholie, der in jede Zeile gesickerte Pessimismus und der tiefe, angenehm arrogante Hass auf die beknackte Mehrheitsgesellschaft. Man findet Michael Sonntag längst nicht so weirdo-mäßig, wie die Verlagsankündigung das tut, und eigentlich zeitigt nur hin und wieder das schwarzhumorig Pointierte einen Gluckser. Lauthals losprusten muss man eher nicht, hat man manchmal sogar das Gefühl, Selbsttherapieliteratur zu konsumieren. Was auch daran liegen mag, dass Schamoni in jüngsten Interviews sehr offen von psychischen Problemen und dem Überdruss am subkulturell ausgebluteten Hamburg berichtet hat. Dass man deswegen bei der Lesung im Deutschen Theater am Mittwochabend einen veränderten Schamoni erwartete, vielleicht sogar einen irgendwie ernsthaft gewordenen Literaturbetriebler, ist trotzdem eine Rechnung ohne den Wirt gewesen.

Das Theater war gesteckt voll, und zwar größtenteils mit Leuten unter dreißig. Schon beim Vorablied aus den Boxen („Künstlerschweine, Künstlerschweine, ja, ich breche euch die Beine, Künstlerschweine sterbt!“) war klar: Nein, da wird kein runderneuerter, bräsig und kulturnudelig gewordener Romanautor auf die Bühne kommen, hier ist noch eine gehörige Portion Studio Braun, Pudelclub, Rollo Aller am Start. Es kam der „King“ mit Hemd, Seidenschal und Wildlederslippern, grinste schief, packte seine Arbeitstasche aus (Manuskript, drei Bier, Kippen) und legte los. Wie anders die Episoden klangen und kamen, vorgelesen von ihrem Autor, der selbst kaum an sich halten konnte, immer wieder loskicherte, sich rundum wohl zu fühlen schien mit Text und Situation: „Tschuldigung, dass ich selbst ein bisschen mitschmunzele, aber es bringt mir halt Freude.“

Boheme-prollig mit Stil

Auch das Publikum lachte. Viel und tränenreich. Für jeden Applaus wurde es nach alter Schamoni-Taktik mit Lob überhäuft („Tolle Reaktion. Der Abend hat jetzt schon was, ihr Crazies“), und auch der temporäre Einsatz des Nordi-Akzents beim Lesen hatte nichts Bieder-Joviales, sondern dieses schöne hamburgisch stilsicher boheme-prollige Dissident-Geschmacklose. Weswegen sich Schamoni sogar eigentlich abgestandene Berlin-Witze erlauben konnte. Einfach, weil die Mischung aus Publikumsbeschimpfung und Publikumsliebkosung, übler Kalauerei, Selbstironie und immer lauernder Systemkritik weiterhin stimmt bei ihm. So wurden „Prenzlwichser“, „Wichser im Deutschen Theater“ und „natürlich auch die Leute aus den harten Stadtteilen“ lustvoll gedemütigt – und Gentrifizierungsspezialist Schamoni war sogar im Bild darüber, „dass auch Neukölln jetzt schon abgewichst ist. Welches Viertel walzt ihr Wichser als Nächstes platt?“

Nach zwei Stunden war Schluss. Zwei Stunden in seinem Zigarettenqualm, mit schönen Geschichten über Oma Anni, Hund Herr Berger und psychedelische Nazizwerge beim Schlager-Move. Schamoni behauptete noch kokett, bald nach Augsburg ziehen zu wollen, weil Messungen ergeben hätten, dass es da gerade am geilsten sei, und lockte seine Zuhörer zur After-Show-Party an die nächste Aral-Tanke, dann verabschiedete sich der immer noch und immer wieder hinterrücks rasend komische Impresario von der Bühne.

KIRSTEN RIESSELMANN