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: Geschüttelte Körper

Gekapertes Filmmaterial: Die DVD „The Cineseizure“ versammelt die Arbeiten des Found-Footage-Künstlers Martin Arnold

Für „found footage“-Künstler wird vorhandenes Filmmaterial zum gefundenen Fressen. Sie nehmen die fremden Bilder und stellen damit an, was sie wollen. Als berühmtester „found footage“-Film gilt bis heute Bruce Conners „A Movie“ (1958), eine kurze Geschichte der Gewalt als Sequenz von Szenen, die Conner aus existierendem Material entwendet und in eigene Zusammenhänge stellt. Matthias Müller und Christophe Girardet kompilieren in „Phoenix Tapes“ (1999) Ausschnitte aus Hitchcock-Filmen – und produzieren in der neu montierten Auswahl und Verdichtung von Leitmotiven des Regisseurs einen erhellenden Meta-Hitchcock.

Auch der Österreicher Martin Arnold unterwirft Bilder aus Hollywood spezifischen Transformationen. Die DVD, die von der Edition Index jetzt unter dem Titel „The Cineseizure“ veröffentlicht wurde, versammelt die drei Filme, die seinen Ruhm begründeten. „Pièce touchée“ (1989), „Passage à l’acte“ (1993) und „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ (1998) sind Experimentalfilme im besten Sinne: Wer sie sieht, dem gehen Augen und Ohren über. Die Prinzipien von Arnolds Bearbeitungen des Filmmaterials sind von bestechender Einfachheit. In „Pièce touchée“ gewinnt er einer nur 18-sekündigen Sequenz aus Joseph M. Newmans unbedeutendem Detektivfilm „The Human Jungle“ (1954) ein atemberaubendes Werk von 16 Minuten Länge ab. Und zwar, indem er die vorhandenen Bilder vor- und zurückbewegt und horizontal wie vertikal spiegelt. Weiter tut er nichts.

Arnolds Film beginnt mit der Eröffnung eines winzigen Spielraums. Eine Frau in einem Sessel, mit dem Rücken zur Tür: Aus der katatonischen Starre der ersten Sekunden, aus dem Standbild, entstehen minimale Bewegungen, ein Zucken der Finger, des Kopfes, vielleicht noch eine Täuschung zunächst, ein Flimmern, das auf die Anfälligkeit des Auges, das visuelle Rauschen des Materials, den Wunsch des Betrachters nach Veränderung zurückzuführen sein könnte. Dann aber, hinter dem Rücken der Frau, eine Öffnung. Etwas tut sich an der Tür. Sie öffnet sich einen Spalt, vor, zurück, schließt sich wieder. So beginnt, auch, eine Erzählung. Eine Frau wartet, ein Mann an der Tür. Stockend, immer wieder vor, immer wieder zurück, nähert sich der Mann der Frau, küsst sie – nicht, küsst sie – immer noch nicht. Dann küsst er sie. Die Linearität des Hollywood-Spielfilms wird so aufgelöst in eine Serie von Suspensionen und Attacken. Und dann in einen entfesselten Tanz der Bilder, ein durch horizontale Spiegelmontagen hervorgerufenes Rudern und Schwingen der Arme, einen Pas de deux des Paares, das in der Vorlage nur ein paar Schritte durch den Raum ging.

„Passage à l’acte“ versammelt die Familie aus Robert Mulligans „To Kill a Mockingbird“ (1962) am Esstisch. Auch dies im Original eine eher harmlose Szene. Arnold macht daraus, als eine Art DJ des Bild- und Tonmaterials, durch atemlose, abgehackte Millisekundenballette raschester Vor- und Zurückbewegung einen hoch aggressiven Kampf, verwandelt den Dialog in ein Lallen, Zischen, Spucken und Bellen. Einzig der dritte Film „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ ist dann eine Kompilation verschiedener Szenen aus gleich drei Werken der einst äußerst beliebten Hollywood-Film-Serie um Mickey Rooney als Teenager Andy Hardy. Durch suggestive Szenenauswahl injiziert Arnold dem vermeintlich unschuldigen Porträt einer ganz normalen amerikanischen Familie einen ödipalen Subtext, der im durchs Stocken und Verzögern plötzlich Orgasmus-ähnlichen Gesang Judy Garlands kulminiert.

Martin Arnold verfremdet das Material, mitunter zur Kenntlichkeit. Er verwandelt Banales in Entsetzliches und entlockt jedem freundlichen Lächeln sinistre Hintergedanken. Bei allem Horror werden die von experimentell induzierten Anfällen geschüttelten Körper jedoch auch zu Exempeln unwiderstehlicher Komik. Sie sind nicht Herr ihrer selbst – und aus der Gewalt, die ihnen und dem Material angetan wird, entspringt ein durchaus unheimlicher Witz der Deformation. Adäquat beschreiben lässt sich das nicht. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben.

EKKEHARD KNÖRER

„The Cineseizure“, 30 € plus Porto, unter www.index-dvd.at