Aufschwung nur am Klagemarkt

Sozialgerichte in NRW entscheiden häufiger über ALG II. Nur wenige Verfahren enden jedoch erfolgreich

ESSEN taz ■ Hartz IV sorgt für mehr Arbeit – zumindest bei den Beschäftigten der Sozialgerichte. 16.300 mal mussten sich die Gerichte in Nordrhein-Westfalen in den letzten zwölf Monaten mit Widersprüchen zum Arbeitslosengeld II beschäftigen, das ist ein knappes Viertel aller Sozialgerichtsverfahren und 77 Prozent mehr als im Jahr 2005. Fast zwei Drittel der Verfahren enden ohne Erfolg für die klagenden Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen.

Die erhöhte Nachfrage nach Rechtsprechung scheint allerdings hausgemacht. Da die Arbeitsagenturen im Umgang mit den neuen Regelungen vertrauter geworden seien, würden sie diese buchstabengetreuer anwenden, sagte Jürgen Brand, der Präsident des Landessozialgerichts in Essen, zur taz. „Vorher haben die schon mal ein Auge zugedrückt.“ Dauerbrenner vor den Gerichten sind eheähnliche Gemeinschaften, die fälschlicherweise als Bedarfsgemeinschaften geführt werden und die Berechnung von Miet- und Heizkostenzuschüssen. Die Dauer der Verfahren steige dadurch auf durchschnittlich 12 Monate, so Brand.

„Erheblicher schneller“ seien die Sozialgerichte mittlerweile, findet dagegen der Sozialrechtsanwalt Martin Reucher. Auch er zieht hauptsächlich wegen Berechnungsfehlern vor Gericht, seit Januar 2007 sind zudem Klagen gegen die verschärften Sanktionen gegen ALG-II-Empfänger hinzugekommen. Die Arbeitsagenturen seien ebenfalls für das erhöhte Klageaufkommen mitverantwortlich. In Bochum würden beispielsweise Anträge und Widersprüche oft nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist bearbeitet. „Dann muss ich vor dem Sozialgericht eine Bearbeitung einklagen, um überhaupt wieder von den Behörden zu hören“, führt Reucher aus.

Aktuell hat er gegen den Ein-Euro-Job einer jungen Klientin geklagt, die in einem Altersheim medizinische Tätigkeiten bis hin zur Leichenwäsche verrichten musste. Erlaubt sind jedoch nur leichte Betreuungsarbeiten wie Vorlesen und Spazierengehen. Die Bochumer Arbeitsgemeinschaft (ARGE) gab den Forderungen der jungen Frau nach und verhinderte damit, dass vor dem Dortmunder Sozialgericht eine stärker verbindliche Regelung getroffen werden konnte.

Entscheidungen vor den Sozialgerichten können vor dem Landessozialgericht aufgehoben werden, die Erfolgsquote liegt dort bei 30 Prozent. Danach ist für die meisten Betroffenen jedoch endgültig Schluss mit dem Klagemarathon. „Nur Verfahren, die für alle Betroffenen grundsätzliche Entscheidungen erwirken, kommen vors Bundessozialgericht“, erläutert Jürgen Brand. Im Moment würden nur zwei Prozent aller Fälle dieses Kriterium erfüllen.

CHRISTIAN WERTHSCHULTE