Keine Ausnahmegesetze für Camorra

Der italienische Regierungschef will keine Streitkräfte nach Neapel schicken. Die Mordserie der Mafia ist für ihn Folge einer verwurzelten Kultur der Illegalität, die mit Soldaten nicht bekämpft werden kann. Prodi verspricht aber 1.000 weitere Polizisten

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Der Einmarsch der Armee in Neapel fällt erst einmal aus. Dies jedenfalls verkündete Ministerpräsident Romano Prodi bei einem Besuch in der von einer Mafia-Mordserie erschütterten Stadt. „Wir intervenieren in Neapel, aber ohne Ausnahmegesetze“, erklärte der Regierungschef zur Begründung für den Verzicht auf einen Militäreinsatz gegen die neapolitanische Camorra.

Prodi erläuterte weiter, dass trotz der zwölf Morde in zehn Tagen, die jetzt für Unruhe gesorgt hatten, von einer Notstandssituation keine Rede sein könne; schließlich liege zum Oktoberende die Zahl der Mordopfer in Neapel mit 49 noch um drei niedriger als im Vorjahr: „Hier liegt gar kein besonderer Notstand vor, leider Gottes, sondern bloß Wellen eines sich wiederholenden Phänomens, und dies ist eigentlich schlimmer, denn wir befinden uns im Normbereich.“

Dieser Hinweis war dem Regierungschef umso wichtiger, als zahlreiche Politiker auch aus der eigenen Koalition eines der ersten Gesetze der Mitte-links-Koalition nach dem Wahlsieg im April für die neue Mordwelle verantwortlich machen: den generellen Strafnachlass um drei Jahre, der etwa 24.000 der knapp 60.000 italienischen Gefängnisinsassen im Sommer die Haftentlassung beschert hatte. Prodi stritt jeden Zusammenhang zwischen Strafnachlass und Camorra-Gewalt ab: Die Camorra sei, wie generell die Mafia-Kriminalität in ganz Süditalien, ein Dauerproblem, das vor allem einer tief verwurzelten Kultur der Illegalität geschuldet sei.

Nicht allein die polizeiliche Bekämpfung der Kriminalität sei deshalb der richtige Weg, erläuterte Prodi – gab dann aber im Wesentlichen Maßnahmen bekannt, die auf die Verstärkung der Polizeipräsenz zielen. 1.000 zusätzliche Beamte sollen in die Stadt einrücken, Kommissariate sollen zusammengelegt werden, um durch die Rationalisierung weitere Beamte für den Einsatz auf den Straßen frei zu machen.

Kritik musste sich der Regierungschef nach seinem Besuch nicht nur von der Rechtsopposition anhören – die machte generell die Linke für die prekäre Sicherheitslage in Neapel verantwortlich, da sowohl die Stadt als auch die Region Kampanien seit Jahren links regiert seien. Sehr unzufrieden äußerte sich auch Neapels Bürgermeisterin Rosa Russo Iervolino, selbst prominente Politikerin aus dem Prodi-Lager. Iervolino erinnerte daran, dass im letzten Wahlkampf die Einführung einer Grundsicherung für Einkommenslose im Programm der Prodi-Koalition gestanden habe und dass diese im Staatshaushalt 2007 aber nicht mehr auftauche.

Die Bürgermeisterin spricht damit einen für die Stärke der Camorra zentralen Faktor an: die Verelendung großer Bevölkerungsschichten in Neapel. Mehr als 140.000 Familien stellten im letzten Jahr Antrag auf die kommunale Armenunterstützung; angesichts der leeren Stadtkassen kamen aber nur 20.000 Familien in den Genuss einer bescheidenen Beihilfe. Für viele Jugendliche aus den Armenvierteln ist die Camorra eine kontinuierliche Versuchung. Entweder arbeitslos oder zu Hungerlöhnen beschäftigt, sehen sie, wie 18-jährige Kleindealer von der Camorra mit 2.000 Euro monatlich entlohnt werden und dass Altersgenossen bisweilen schnell in der Bandenhierarchie aufsteigen und zu Reichtum kommen. Deshalb auch genießt die Camorra in einigen Stadtvierteln breite Unterstützung: Wenn die Polizei dort Bosse verhaftet, kommt es bisweilen zu Straßenschlachten mit hunderten von Anwohnern. Prodi hat also durchaus Recht, wenn er von der „tief verwurzelten Kultur der Illegalität“ redet; eben deshalb wird aber die bloße Verstärkung der Polizei in der Stadt am Dauernotstand wenig ändern.