: Hartmuts harter Weg
Einsam in Deutschland. Die ungeschönte Wahrheit-Sozialreportage
Im Fernsehen sind Singles stets jung, erfolgreich und haben fast so viel Spaß wie Peter Hahne. Im wahren Leben sind sie oft über 100, verarmt und der Schrank ist voller Pillen und Inkontinenzmaterial. 14,7 Millionen Deutsche gehen nachts allein schlafen, die Bettpfannen sind ihre einzigen Begleiter. Die Wahrheit stellt einen dieser Einsamen vor.
Wir sind auf Hausbesuch bei Hartmut Spengler (66) im heruntergekommenen Berliner Stadtteil Charlottenburg. In einem tristen Wohnblock steigen wir die Treppen bis zur vierten Etage hinauf. Ein Mann mit einsamer Haarinsel steht vor der Tür. Er sucht wieder und wieder seine Taschen ab und flucht. „Diese verfluchte Scheißtür! Seit drei Stunden stehe ich hier und komme nicht rein. Jetzt muss ich wohl oder übel meinen Sohn anrufen.“
Eine halbe Stunde später erscheint Atze (39), auszubildender Bauschlosser. Er hat ein mächtiges Brecheisen dabei, das er nun in einer der Furchen, die offensichtlich von vorangegangenen Brecheiseneinsätzen stammen, ansetzt. „Hau ruck!“, dröhnt Atzens Bassstimme durch den Hausflur, dann ist ein lautes Krachen zu hören.
„War’s das? Macht dann 300 Euro!“, verabschiedet sich der kräftige Junge von seinem Vater.
Das ist eines der Probleme, die Hartmut Spengler hat, seit seine 28. Frau ihn verlassen hat. Er setzt sich auf seine schwarze Ledercouch. Statt der Bild, die er holen wollte, hat Spengler die Hürriyet mitgebracht. Ohne etwas davon zu bemerken, liest er sich einige Artikel durch. Die jungen Kioskverkäufer erlauben sich immer öfter solche Scherze, vor allem bei alten Menschen wie Hartmut Spengler.
Dann beginnt Spengler zu erzählen, und seine Stimme hat dabei einen merkwürdig ranzigen Klang: „Ich habe alles verloren – meine Frauen, meine Häuser, meine Band und meine Dulcolax-Dragees.“ Er zeigt uns ein ausgebleichtes Bild seiner 77 Enkelkinder. „Die haben viel um die Ohren. Ab und zu kommt irgendjemand vorbei, um die Tür aufzubrechen und nach Geld zu suchen. Ansonsten habe ich nur den Bubi bei mir, meinen Wellensittich. Er ist 60 Jahre alt.“
Das Zwitschern lenkt ihn ab, wenn er traurig ist: „Oft denke ich, Bubi ist für mich der einzige Grund, morgens aufzustehen.“ Er übt geduldig mit ihm Sprechen, singt ihm die Hits seiner alten Band vor. Der Sittich kann schon „Du bist der einzige Grund für mich, morgens aufzustehen, Hartmut“ sagen.
„Meine 17. Frau hat mich verlassen, weil sie unsere Musik nicht mehr ertragen konnte, na ja, irgendwie kann ich’s ja verstehen, ich konnte den Scheiß selbst kaum noch hören, geschweige denn singen“, krächzt Spengler, der nach einer Kehlkopfentfernung durch einen Schlauch spricht, welcher ihm aus dem Hals ragt.
„Als die Band sich aufgelöst hatte, fand ich keine Arbeit und konnte die Hypotheken für das Haus und den Rasensprenger nicht mehr bezahlen. Da kriegte meine 22. Frau zu viel – und war fort. Danach kam der Umzug nach Charlottenburg. Das ist jetzt 36 Jahre her. So lief das mit allen Frauen, jede hatte etwas an mir auszusetzen. Die letzten sechs mochten entweder die Wohnung, den Vogel oder meinen übelriechenden Durchfall nicht. Heute bin ich geschieden und lebe von Hartz IV.“ Er röchelt leise, fast klingt es wie ein Flüstern: „Die guten Zeiten sind vorbei. So am Boden wie jetzt war ich noch nie.“
Geboren wurde Hartmut Spengler 1940 im Speiseraum seines Elternhauses in Heuchelheim. „Hier riecht’s aber unangenehm“, war schon damals der erste Kommentar des Vaters. Die künftige Einsamkeit war vorgezeichnet. Erst in den Achtzigerjahren entdeckte Spengler, der bis dahin nichts außer Sofaliegen gelernt hatte, sein Talent: Er wurde Texter und Sänger der Band „Spur“. Mit dem Titel „Hab mich wieder mal an Bier betrunken“ verhalf er der Gruppe zum Durchbruch. Die Idee dazu kam ihm in einer Kneipe.
Sein größter Wunsch auf dem Höhepunkt des Ruhmes war es, „eines Tages ganz gelassen mit seiner ganzen Faulheit den Tag über sich ergehen zu lassen“. Wie so ein Tag bei ihm ablaufe, wollen wir noch wissen. „Gegen elf, halb zwölf stehe ich auf und frühstücke. Dann gehe ich meine Runde, zum Kiosk, die Zeitung holen, und zum Briefkasten. Immer hoffe ich, dass ein Stellenangebot dabei ist.“ Gerade hätte er fast eine Stelle bekommen. Doch dann ging es doch schief: „Ich habe 39 Jahre Berufserfahrung, aber ich bin über 60. Wer will schon einen Sänger ohne Kehlkopf in meinem Alter?“
Ähnlich sieht es mit der Liebe aus – auch da blickt Spengler düster in die Zukunft. „Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mir eine Frau aus Osteuropa zuzulegen. Die sollen so treu und gehorsam sein – solange du zahlst. Aber bei meiner finanziellen Lage …“, seufzt er.
„So vergehen die Tage. Ich wache verzweifelt auf und schlafe mit Selbstmordgedanken wieder ein.“ Was bleibt? „Ich hoffe immer noch auf die Zusage für meinen Altersheimplatz. In meiner Heimatstadt Heuchelheim. Aber da will Bubi nicht hin, also bleiben wir hier in Charlottenburg.“
Spenglers Gesicht verschwindet hinter türkischen Schlagzeilen. Für uns ist Hartmut Spengler heute nicht mehr zu sprechen. GREGOR MOTHES
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen